Gelsenkirchen/Essen. 1500 Kirchen werden bis 2030 überflüssig. Einigen Gemeinden, die eine neue Nutzung suchen, wird jetzt geholfen. Auch dreien im Ruhrgebiet.
Erstmals unterstützt das Land NRW Kirchengemeinden und Privatinitiativen, die überflüssig gewordene Kirchen umwandeln und damit retten wollen. Experten gehen davon aus, dass bis zum Jahr 2030 von 6.000 Gemeindekirchen im Land mindestens 1.500 nicht mehr gebraucht werden, jede vierte also.
Seit der ersten Welle im Ruhrbistum nach 2006 gehen die Schließungen bei der evangelischen wie der katholischen Kirche ungebremst weiter. In Bochum etwa verschwanden zwischen 2006 und 2017 von 88 Kirchen 24 (27 Prozent), in Gelsenkirchen verschwanden 18 von 63 (29 Prozent).
Neue Nutzung als Wohngebäude, Pflegeheim oder Stadtteiltreffpunkt
Das geht aus Kirchenschließungskatastern hervor, die diese beiden Städte führen. Von fast 100 Kirchen, die seit 2006 im Ruhrbistum geschlossen wurden. ist etwa ein Drittel abgerissen worden, zwei Drittel werden neu genutzt. Kirchen beider Konfessionen bekamen einen neuen Sinn beispielsweise als Stadtteilzentrum (Bochum), Pflegeheim (Essen) oder Beerdigungsinstitut (Gelsenkirchen); als Aufbewahrungsstätte für Urnen (Duisburg), Veranstaltungszentrum (nochmals Gelsenkirchen) oder Wohngebäude (Mülheim).
Experten nennen als Gründe für das Kirchensterben den demografischen Wandel, die wachsende Säkularisierung der Gesellschaft und damit einhergehende fehlende Einnahmen aus Kirchensteuern. Einzelne Gemeinden sind mit dem Management einer überflüssigen Kirche meist überfordert.
„Das ist eine monströse Aufgabe für Ehrenamtliche“
„Das ist eine monströse Aufgabe für Ehrenamtliche, die weder dafür ausgebildet sind noch Lust darauf haben, eine komplexe und emotional aufgeladene Immobilie zu entwickeln“, sagt der Stadtentwickler und Gemeindeberater Jörg Beste aus Köln.
Jetzt sind in St. Gertrud in Köln acht Gemeinden benannt werden, die jeweils eines ihrer Kirchengebäude aufgeben müssen und für die Umnutzung Hilfe bekommen: Sie sollen nun mindestens ein Jahr lang von Experten beraten werden, wie diese Kirchen künftig genutzt werden können. Darunter sind auch drei aus dem Ruhrgebiet: die Kirche St. Michael in Oberhausen, die Pauluskirche in Gelsenkirchen und die Dreifaltigkeitskirche in Essen.
21 Gemeinden hatten sich darum beworben, Erfahrungen zu teilen
Auf die entsprechende Ausschreibung der Initiative „Stadtbaukultur“ hatten sich 21 Gemeinden beworben.„Stadtbaukultur“ ist eine Initiative des Landes in Zusammenarbeit mit Institutionen und Verbänden aus den Bereichen Architektur und Ingenieurwesen. „Es geht darum, die Erfahrungen zu teilen, die andere Gemeinden schon bei der Umnutzung gemacht haben“, sagte ein Sprecher von „Stadtbaukultur.“
Unter anderem geht es um die Dreifaltigkeitskirche im Essener Norden. Dort werden sie am Freitagabend ganz unplanmäßig die Glocken läuten. „Christen für die Zukunft“ heißt die Aktion und reiht sich ein in die weltweiten Demonstrationen für Klimaschutz; das Motto passt aber auch zu der Rettungsaktion, die gerade anläuft für die eigene Kirche: Was bin ich?
„Viele Fragen, aber keine Antworten und kein Geld“
Sie ist nämlich eine der drei Kirchen im Ruhrgebiet, auf die nun mindestens ein Jahr lang professionelle Planer schauen und Ideen entwickeln, sie mit Sinn und mit Leben zu erfüllen. „Wir wollen schauen, was wir mit dieser Kirche für den Stadtteil tun können“, sagt Pfarrer Christoph Ecker.
Zu der Gesamtaufgabe sagt ein Geistlicher: „Wir können gar nicht die Kraft aufbringen, das alleine zu tun.“ Und ein anderer: „Viele Fragen, aber keine Antworten und kein Geld.“ Nur eines will man möglichst vermeiden: die Kirche einfach abzureißen. Oder final abzuschließen, der Verfall kommt dann von selbst.
400 Menschen hätten hier Platz, aber so viele kommen längst nicht mehr
Denn das ließe „die Angst aufkommen, dass etwas aufgegeben wird, was Menschen gehalten hat und was Heimat war“, sagt ein ranghohes Mitglied der Evangelischen Kirche. Thomas Hartung aus dem Presbyterium der Gemeinde sagt es so: „Eine Kirche ist nicht nur Steine, eine Kirche schafft Identität.“
Und dann diese. Von außen ist die Dreifaltigkeitskirche weniger als unscheinbar, doch wenn man eintritt: Aber hallo! Wunderbare Fenster, die Weite des Raums. 400 Menschen hätten hier Platz, aber so viele kommen lange nicht mehr zu den Gottesdiensten. Das ist es ja eben. Gebaut wurde sie in den 50er-Jahren, als Essen sich für eine kommende Millionenstadt hielt. „Der Bauboom rächt sich nun“, sagt Ecker, der Pfarrer.
In Gelsenkirchen hat ein Schulleiter ein Auge auf eine Kirche geworfen
Klar ist nur die ganz grobe Richtung: Bildungs- und Familienzentrum, aber auch weiter Kirche mit gelegentlichen Messen. Die Auswahl durch „Stadtbaukultur“ sei nun „die Chance, Kompetenz zu gewinnen“. Was macht man mit den angebauten Gemeinderäumen? Mit dem angebauten Jugendzentrum? So viel Gebäude. Himmel hilf.
Elf Kilometer östlich davon, in Gelsenkirchen-Bulmke-Hüllen, hat Schulleiter Frank Kaupert schon lange ein Auge auf die Pauluskirche geworfen. Alles andere wäre auch eine große Überraschung, denn die liegt auf der anderen Straßenseite, seinem Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium und seinem Direktorenzimmer gegenüber.
Die Stadt müsste einer freundlichen Übernahme erst noch zustimmen
Darin sitzt Kaupert gerade zusammen mit Pfarrer Henning Disselhoff. „Wir wollen beide nicht, dass die Kirche einfach so geschlossen wird“, sagt Kaupert. Was ihnen vorschwebt, sind freilich nicht einfach drei oder vier Klassenräume mehr für das Gymnasium. Sondern ein besonderer Platz für zusätzliche Angebote.
So ist in einem Papier die Rede etwa von „musikalischen und künstlerischen Angeboten“ oder „ethischen Fragen und Erfahrungsfeldern (Friedenserziehung, Umweltfragen, nachhaltiger Lebensstil, Achtsamkeit“). Freilich muss der Schulträger, die Stadt, der freundlichen Übernahme zustimmen.
Kinder und Eltern strahlen in die Kameras, und das war genau hier
In der Pauluskirche, die noch bis Pfingsten 2020 genutzt wird, hängt derzeit die vorletzte Ausstellung. Eine kleine Geschichte der Konfirmation in Bulmke-Hüllen, viele Fotos: Kinder und Eltern strahlen in Kameras. Und das war genau hier.
Pfarrer Henning Disselhoff erhofft sich genau davon einen Motivationsschub bei dem einen oder anderen. „Es wird einige geben, die sagen: Was, die Pauluskirche soll geschlossen werden? Da haben doch schon Oma und Opa geheiratet!“ Er hoffe, das Leute aktiv werden, die „nicht die kirchlichen Inhalte interessieren, aber das Gebäude.“ Man muss da nicht gleich vom Saulus zum Paulus werden.