Dorsten. „Die Hand fehlt“ hört Laura May während der Geburt ihres Sohnes. Heute ist Leon fünf Monate alt. „Alle lieben ihn, so wie er ist“, sagt sie.

Leon macht, was alle Babys machen, wenn sie im Buggy durch die Straßen geschoben werden: Er macht sich einen Spaß daraus. Fällt das Fläschchen neben den Wagen – sieht es aus wie Absicht. Kommt das Kuscheltier geflogen – sollte wohl so sein. Mama bückt sich, oder Papa, Leon strahlt. „Die Sachen fliegen ziemlich viel“, sagt Laura May, Leons Mutter: „Socken an den Füßen bleiben auch nicht lange dran.“ Babys sind so. Wer nicht genau hinsieht, käme nicht darauf, dass Leon keine rechte Hand hat. Dass er nie eine hatte.

Laura May hat sich bei der WAZ gemeldet, nachdem sie Ende letzter Woche mitbekommen hat, dass es vielleicht eine Häufung dieser Missbildungen in Nordrhein-Westfalen gibt. Drei Fälle sind bekannt in Gelsenkirchen, je einer in Datteln, in Bochum, drei im Kreis Euskirchen – und Leons aus Dorsten.

„Ist das eine Laune der Natur gewesen oder etwas anderes?“

„Nach der Geburt haben wir gedacht, es ist halt so passiert. Aber jetzt, diese Häufung … Ist das eine Laune der Natur gewesen oder etwas anderes?“ Die Familie würde sich gerne vernetzen mit anderen betroffenen Eltern in der Region, um sich auszutauschen und zur Ursachenforschung beizutragen. „Ich liebe ihn, als ob er gesund wäre.“

Leon auf seiner Spieldecke, über ihm der Spielbogen, an dem Puppen hängen, nach denen er greift.
Leon auf seiner Spieldecke, über ihm der Spielbogen, an dem Puppen hängen, nach denen er greift. © FUNKE Foto Services | Michael Gottschalk

Leon ist heute fünf Monate und drei Tage alt. Seine rechte Hand fehlt. Wo die Handfläche beginnen sollte, sieht die Haut aus, als säßen darunter Knöchel. Doch es fühlt sich da ganz weich an. Leon lacht. Ist er da kitzlig? Irgendwann wird er es sagen können.

Auf den Ultraschallbildern blieb die fehlende Hand immer verborgen

Auf den Ultraschallbildern aus der Schwangerschaft lag Leon immer so im Bauch, dass die fehlenden Hand verborgen bliebt. Bei einem speziellen Screening auf eine mögliche Behinderung hin ist auch nichts zu sehen. „Ich wollte es nur wissen, ich wollte vorbereitet sein“, sagt die Mutter. Aber es war ja nichts. Das Bild hängt an der Wand im Kinderzimmer. Keine Hand? Nicht zu sehen.

Am Abend des 12. April, einem Freitag, setzen die Wehen ein. Lauras Lebensgefährte, Leons baldiger Vater Marcel Bongers (26), fährt sie nachts ins Elisabeth-Krankenhaus in Dorsten. Dort sei diagnostiziert worden: Die Wehen sind zu schwach, wir können noch nichts machen, fahren Sie nach Hause – so erzählt es das Paar.

Auch interessant

Inzwischen hat Leon die „Untersuchung 4“ hinter sich: „Alles bestens“

„Am nächsten Morgen bin ich kollabiert und ohnmächtig geworden“, erinnert sich Laura May. Aus Angst, dass etwas passiert, alarmieren die beiden einen Krankenwagen. Wieder geht es mit Tempo ins Elisabeth-Hospital. Um 10.40 Uhr kommt Leon zur Welt. Noch unter der Geburt sagt eine Ärztin plötzlich: „Die Hand fehlt.“ Laura May: „Ich wusste zunächst gar nicht, was sie meinte.“ Später habe die Ärztin gesagt, so etwas habe sie noch nie gesehen.

Es gibt zwei Fotos von jenem Morgen. Auf dem einen liegt Leon halb zugedeckt auf Mamas Bauch und schaut leicht schrumpelig in die neue Welt, wie Neugeborene es tun – neben ihm die linke Hand. Auf dem anderen ist der Stumpf zur rechten zu sehen, es entstand bei der „U1“ („Untersuchung 1“) direkt nach der Geburt. Inzwischen hat Leon die vierte dieser Regel-Untersuchungen hinter sich, die „U4“. „Alles bestens.“

„Wir lassen das jetzt so, er soll das später selbst entscheiden“

Irgendwann im August sind die drei zu einem Zentrum für Kinderchirurgie in Köln gefahren. Was kann man tun? „Man hat uns mehrere Alternativen angeboten“, sagt Laura May. Die Transplantation von Zehen an die Hand. Das Einsetzen einer großen Prothese.

Leon auf dem Schoß seiner Mutter.
Leon auf dem Schoß seiner Mutter. © FUNKE Foto Services | Michael Gottschalk

„Es kann aber auch passieren, dass der Körper das abstößt.“ Und die Transplantation von Zehen würde dazu führen, dass Leon sein Leben lang Spezialschuhe und Einlagen tragen müsste. „Er hat schon eine Baustelle … Wir lassen das jetzt so. Er soll das später selbst entscheiden.“

Niemand hat sich abgewendet, erzählt Laura May. Niemand war entsetzt. „Willkommen im Leben“ steht über der Wickelkommode im Kinderzimmer. Gegenüber hängen Glückwunschkarten. „Alle lieben ihn, so wie er ist“, sagt Laura May. Inzwischen kann Leon sich auf den Bauch drehen. Er versucht zu robben. „Ich denke auch manchmal gar nicht mehr daran. Ganze Tage nicht“, sagt sie. „Er arbeitet auch viel mit der anderen Hand.“ Und wie? Kommt der Schnuller geflogen ...