Ruhrgebiet. In Datteln und Dorsten sind auch Kinder mit missgebildeten Händen geboren worden. Ärzte fordern, dass die Behörden die echten Zahlen aufklären.
Nach einer ungewöhnlichen Häufung von Fehlbildungen bei Neugeborenen an einer Gelsenkirchener Klinik will sich Nordrhein-Westfalens Gesundheitsministerium einen genaueren Überblick verschaffen. Das Ministerium werde alle Klinken in NRW abfragen, ob dort ähnliche Fehlbildungen aufgefallen seien, sagte eine Sprecherin der Düsseldorfer Behörde am Samstag auf Anfrage.
Man nehme die Berichte über solche Fälle „sehr ernst“. „Darüber hinaus nehmen wir Kontakt mit den Ärztekammern, dem Bund und den anderen Bundesländern auf, um möglichen Ursachen mit aller Sorgfalt nachzugehen.“ Ob ein Melderegister der richtige Weg sei, gelte es gemeinsam zu prüfen, sagte die Sprecherin.
Noch zwei missgebildete Babys: Ärzte fordern Abfrage im Land
Die Professorin Claudia Roll bekam Gänsehaut, als sie las von den drei Babys mit missgebildeten Händen in Gelsenkirchen. Der Grund: An der renommierten Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln, wo sie arbeitet, ist im Sommer auch ein solches Kind zur Welt gekommen. Und in Dorsten im Frühjahr auch: ein Junge, der an einer Hand keine Finger hat.
Auch interessant
Roll, die Chefärztin der Neugeborenen-Medizin in Datteln, fordert im Gespräch mit der Redaktion am Freitag: „Das ist total wichtig, dass man jetzt klärt, ob auch woanders Fälle aufgetreten sind, wo und in welcher Häufung. Das kann man nur behördlich machen, dann müssen die Krankenhäuser die Daten auch liefern.“
Gesundheitsministerium in Berlin fordert Klärung so schnell wie möglich
Das Land oder die Gesundheitsämter sollten Geburten- und Kinderstationen abfragen. „Die Abfrage kann ja schnell gehen. Daran erinnert sich jeder Geburtshelfer.“ Andere Ärzte äußerten sich ähnlich.
„Wenn Sie einmal ein solches Kind haben, das kommt natürlich vor“, sagt Roll, die auch im Vorstand der „Deutschen Stiftung Kranke Neugeborene“ ist. Gebe es aber tatsächlich mehr als eine zufällige Häufung, müsse die Ursache geklärt werden. „Gibt es vielleicht ein Virus, das speziell das macht?“ Ein Sprecher des Gesundheitsministeriums in Berlin sagte: „Wenn es eine auffällige Häufung von Fehlbildungen bei Neugeborenen geben sollte, muss das so schnell wie möglich geklärt werden.“
Das Ministerium begrüße, dass das betreffende Krankenhaus Kontakt zur Berliner Charité aufgenommen habe. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach rief Spahn in der „Bild“-Zeitung dazu auf, „dringend eine Studie in Auftrag zu geben, die systematisch die Daten der Kliniken und die Häufigkeit der Fälle erfasst“.
Handflächen und Finger jeweils einer Hand seien „nur rudimentär angelegt“
Bei der Ursachenforschung steht man unterdessen ganz am Anfang. Denkbar sind auch genetische Gründe, Umweltfaktoren, Gifte oder das Abschnüren von Extremitäten durch Nabelschnurumwickelungen.
Auch NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) dringt auf Aufklärung: „Die Berichte über Fehlbildungen bei Säuglingen müssen wir ernst nehmen“, sagte am Freitag laut einer Mitteilung. „Hierbei helfen allerdings keine Spekulationen. Vielmehr muss den möglichen Ursachen mit der gebotenen Sorgfalt nachgegangen werden.“
Neben der Ursachenforschung würden auch die zur Verfügung stehenden Instrumente der Qualitätssicherung greifen. So würden die in den Geburtskliniken erfassten Daten - unter anderem über angeborene Fehlbildungen - bei den Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe zur Qualitätssicherung bewertet. „Mein Ministerium wird beim Krankenhaus einen Bericht anfordern und den Fortgang der Ursachenforschung sehr genau beobachten“, so Laumann.
Wie berichtet, waren im Sankt-Marien-Hospital in Gelsenkirchen-Buer zwischen Juni und Anfang September drei Babys ohne voll ausgebildete Hände zur Welt gekommen. Die Arme seien normal entwickelt, die Handflächen und Finger jeweils einer Hand aber „nur rudimentär angelegt“, hieß es. Man könne keine sozialen, kulturellen oder ethnischen Gemeinsamkeiten der Herkunftsfamilien sehen.
Umfrage unter Krankenhäusern ergibt keine Häufung solcher Fälle
„Das mehrfache Auftreten mag eine zufällige Häufung sein. Wir finden jedoch den kurzen Zeitraum auffällig“, sagte Krankenhaus-Sprecher Wolfgang Heinberg. Man habe Kontakt aufgenommen zu einer Humangenetikerin an der Charité in Berlin. Die Klinik will die Fälle jetzt auch in regionalen Zirkeln der Kinder- und Jugendärzte ansprechen. Die Charité und der Deutsche Hebammenverband wollten sich am Freitag zunächst nicht zu dem Thema äußern. Zuletzt hatten Hebammen auf diese Fälle aufmerksam gemacht.
Mehrere große Krankenhäuser mit Geburtsstationen im Ruhrgebiet erklärten auf Anfrage der WAZ oder auch der Deutschen Presse-Agentur, sie hätten keine solche Missbildungen gesehen. Eine Sprecherin des Essener Elisabeth-Krankenhauses sagte, etwa einmal im Jahr habe man ein Kind mit einer Handfehlbildung. „Wir können damit nicht von einer Häufung solcher Fälle sprechen.“
Humangenetiker hält Umweltgifte als Ursache für eher unwahrscheinlich
Der Humangenetiker Dr. Ulrich Finckh aus Dortmund arbeitet eng mit dem Hygieneinstitut Gelsenkirchen zusammen. Er sagte am Freitag, bei Hinweisen auf eine Häufung angeborener Anomalien „müsste bei den Familien eine sorgfältige Erhebung der Familien- und Schwangerschaftsvorgeschichte erfolgen. Dabei wäre besonders auf Medikamenteneinnahme, Nahrungsgewohnheiten, -ergänzungsmittel und Ähnliches zu achten“. Umweltgifte im Umfeld hält er als Ursache für derartige Fehlbildungen für eher unwahrscheinlich.
Auf die Frage, ob er heute noch medikamentenbedingte Fehlentwicklungen wie einst beim Contergan für möglich halte, antwortete Finkh mit einem klaren „Ja“. „Wir sind ständig konfrontiert mit Medikamenten, die nur in Kleinst-Studien erprobt wurden und dann für den breiten Markt zugelassen werden.“ Den betroffenen Familien riet Finkh, sich in einer humangenetischen Sprechstunde vorzustellen.
Handchirurgen können helfen mit Transplantationen oder Prothesen
Den betreffenden Kindern wird die Medizin helfen können. Dr. Eva-Maria Baur hat viele Missbildungen gesehen. Zusammengewachsene Finger und überzählige Finger: Das sind die häufigsten. „Vorhandene Restfinger kann man operativ verlängern“, sagt Baur, die kommende Präsidentin der „Deutschen Gesellschaft für Handchirurgie“.
Es sei auch möglich, einen Zeh oder zwei Zehen an die Hand zu transplantieren. Im Alter von ein oder zwei Jahren könne man daran denken, „an Verlängerungen etwas später“. Manchmal reiche ein Eingriff, manchmal nicht. Denkbar sei auch, den Kindern mit Hand- oder Armprothesen zu helfen.
Expertin: Umgang der Eltern mit den betroffenen Kindern ist extrem wichtig
Dabei zeige die Erfahrung, dass gerade kleine Kinder lieber unterschiedliche Hilfsprothesen haben, die für eine jeweilige Funktion hilfreich sind: eine Hilfsprothese zum Beispiel, um beidhändig Fahrrad fahren zu können. Eine andere für das Essen, um etwa Löffel oder Gabel zu halten. „Und wenn es ein Instrument spielt, eine andere Haltehilfe.“ Denn eine feste Prothese für alles sei „groß und schwer, und die Kinder merken, dass sie da kein Gefühl haben. Sie kennen es ja von der anderen Hand.“
Extrem wichtig sei der Umgang der Eltern mit dem Kind. „Die Kinder kennen sich nicht anders, sie haben oft das geringste Problem damit“, sagt die Spezialistin für plastische- und Handchirurgie. Das „A und O“ sei es, „dass die Eltern das Kind so annehmen, wie es ist. Sie müssen lernen, das zu akzeptieren.“ Sie sage betroffenen Eltern oft: „Das Kind wird Fähigkeiten haben, die andere nicht haben.“
Zwei Phasen seien besonders schwierig: im Kindergarten („Kinder können grausam sein“) und in der Pubertät, wenn Äußerlichkeiten wichtig seien. „Das Kind wird irgendwann merken, dass es anders ist“, sagt Baur: „Aber wenn sie ein gutes familiäres und soziales Umfeld haben, dann machen die ganz tolle Sachen.“