Bochum. Selbst die Lücke in der Häuserfront auf der anderen Straßenseite macht er für Blinde sichtbar: Der virtuelle Blindenstock übersetzt sie in Töne.

Sachen gibt’s. Kopfschüttelnd kam die junge Elektrotechnik-Studentin damals mit der Neuigkeit zu ihrem Chef: „Der Pohl“, hatte sie erfahren, „entwickelt jetzt eine Taschenlampe für Blinde, irre.“ Dr. Gerald Enzner vom Institut für Kommunikationsakustik an der Bochumer Ruhr-Uni, muss noch immer schmunzeln, wenn er davon erzählt. Denn was seine Studentin nicht wusste: Enzner war beteiligt an dem „irren“ Projekt „Ravis-3-D“. Drei Jahre lang hat Enzner zusammen mit „dem Pohl“, Prof. Nils Pohl (Lehrstuhl für Integrierte Systeme), Prof. Rainer Martin (Lehrstuhl für llgemeine Informationstechnik und Kommunikationsakustik) und verschiedenen Industriepartnern daran gearbeitet; mit 1,8 Millionen Euro unterstützt von EU und Land NRW. Das Forscher-Konsortium allerdings nennt die gemeinsam entwickelte, radargestützte„Taschenlampe“: Virtueller Blindenstock.

Elektromagnetische Wellen werden von Hindernissen reflektiert

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Und tatsächlich ähnelt er einer spacigen Taschenlampe. Am einen Ende des blauen Aluminiumgehäuses steckt ein weißes „Ei“, das Linse und Antenne zugleich ist, und einen ganz speziellen, handgefertigten Radarchip enthält. Es sendet zielgerichtet hochfrequente elektromagnetische

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Wellen aus, die von Hindernissen reflektiert und wieder empfangen werden. So wird die Entfernung bestimmt, diese dann hörbar gemacht und über halboffene Kopfhörer ausgegeben.

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Ähnlich wie bei der Einparkhilfe im Auto gilt dabei: je höher die Piepwiederholungsfrequenz ist, desto näher das Hindernis. „Im Nahmodus decken wir einen Bereich von rund sechs Metern ab, im Fernmodus funktioniert das sogar bis zu einer Entfernung von zwölf Metern“, erklärt Patrick Kwiatkowski, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt. Anders als der normale Blindenstock erfasst der virtuelle auch die offene Tür im Raum, den Durchgang in der Häuserfront auf der anderen Straßenseite oder den Briefkasten in einem Meter Höhe. Inspirieren ließen sich die Forscher vom „Prinzip Fledermaus“. Die kleinen Flieger orientieren sich mithilfe von Ultraschallwellen im Dunkeln, sie verfügen über ein eigenes Echoortungssystem (Biosonar). „Sie hören den Raum“, sagt Enzner.

Herausforderung: die intelligente Analyse der Geräuschkulisse

Privatdozent Dr. Gerald Enzner: „Die Übersetzung der Radaranalyse in Töne war eine besondere Herausforderung.“
Privatdozent Dr. Gerald Enzner: „Die Übersetzung der Radaranalyse in Töne war eine besondere Herausforderung.“ © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Radarsensorik für Industrieroboter oder Autonom-Fahrzeuge entwickelt Nils Pohl an seinem Lehrstuhl an der Fakultät für Elektro- und Informationstechnik für gewöhnlich. Hochfrequente Schaltungen bis 300 Gigahertz und darüber hinaus sind eines der Spezialgebiete des Bochumer Profs. „Ein Mitarbeiter schlug irgendwann vor, diese Technik zur Unterstützung blinder Menschen einzusetzen. Wir stellten fest: dafür gibt es tatsächlich Bedarf“, erzählt der Ingenieur, dem es „nicht ausreichen würde, nur so im Labor rumzuforschen“. „Forschung muss konkret Sinn machen, dem Menschen nutzen“, sagt auch sein Kollege Gerald Enzner, für den „die intelligente Analyse der Geräuschkulisse und die Übersetzung dieser Radaranalyse in Töne“, die „Synchronisierung“, größte Herausforderung des Projekts war. Hindernisse, die selbst Töne von sich geben, sprechende Menschen etwa, mussten ja ausgeblendet werden – die bemerkt der Blinde auch ohne Blindenstock. Funktionieren konnte es nur, sagt Enzner, weil viele gemeinsam daran arbeiten: „die Radartechnologie als Wahrnehmungsmedium, die Akustik als Darbietungsmodalität und die eingebetteten Systeme als Übersetzer.“

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Hansjörg Lienert war der erste, dem die Bochumer Forscher ihren virtuellen Blindenstock in die Hand drückten. Der 62-Jährige ist Gründer einer Marburger Firma, die seit 1989 Software für Sehbehinderte entwickelt; zudem Kooperationspartner des Ravis-3-D-Projekts; und selbst fast blind. „Er war auf Anhieb begeistert“, erzählt Christoph Urbanietz, ebenfalls wissenschaftlicher Projektmitarbeiter. Mussten die Sehenden erst lernen, sich mithilfe unterschiedlicher Töne im Raum zu orientieren, sei das Lienert „innerhalb von Sekunden“ gelungen. Blitzschnell habe er Räume „gescannt“ und die offene Tür auf Anhieb gefunden. Sogar im „Katastrophenszenario Essener Hauptbahnhof“ kam er mit dem virtuellen Blindenstock bestens zurecht, beim Treppensteigen oder beim Einstieg in die Bahn gar besser als sonst, berichten die Forscher. Seinem Vorschlag, zur „Schnellorientierung“ einen Dauerton zu verwenden, folgten sie sofort.

In zwei, drei Jahren könnte der Prototyp des virtuellen Blindenstocks Marktreife haben

Prof. Nils Pohl: „Überrascht hat mich, dass das einfachste Sensorsystem bei den Testpersonen am besten ankam.“
Prof. Nils Pohl: „Überrascht hat mich, dass das einfachste Sensorsystem bei den Testpersonen am besten ankam.“ © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Die Rückmeldung auch weiterer Testpersonen sei immens wichtig gewesen, so Pohl. „Die reine Sensorik beherrschen wir schon lange. Entscheidend war zu lernen, was Blinde wollen.“ Überraschend für ihn: sie wollten eine möglichst einfache Lösung, ein intuitiv zu erfassendes System. Zunächst nämlich hatte man experimentiert mit komplexeren Hilfsmitteln, etwa solchen, die – wie selbstfahrende Autos – rundum mit Radio-Sensoren ausgestattet sind. Doch die simple, zielgerichtete Variante, die Hindernisse meldet ausschließlich in der Richtung, in die die „Lampe“ zeigt, kam besser an.

Noch gibt es lediglich zwei große und einen kleineren Prototypen; noch muss, wer den virtuellen Blindenstock nutzt, PC und Kopfhörer mit sich tragen. „Technisch gesehen wäre es aber kein Problem, die „Lampe“ in ein Smartphone zu integrieren, das direkt mit einem Hörgerät kommuniziert“, erläutert Pohl. Er würde mit den Kollegen gerne weiter am virtuellen Blindenstock arbeiten, „bis zu dessen Marktreife“ oder wenigstens „solange noch Fragen offen sind“. Für weniger als hundert Euro sollte der zu kaufen sein, wenn er erst einmal in Serie produziert würde. In zwei, drei Jahren, denkt Pohl, könnte es soweit sein. Die Fördergelder für die weitere Forschung werden demnächst beantragt.

>>>>Info: Die Projektpartner und -unterstützer

Kampmann Hörsysteme, Essen

Sensorbasierte Neuronal Adaptive Prothetik (Snap), Bochum

Lehrstuhl für integrierte Systeme, RUB

Lehrstuhl für eingebettete Systeme in der Informationstechnik, RUB

Institut für Kommunikationsakustik, RUB

Bochumer Institut für Technologie

Dräger und Lienert Informationsmanagement, Marburg

Berufsförderungswerk Halle (Saale)

GN Hearing, Münster