Wattenscheid. Andere Abiturienten fliegen nach Mallorca. Henri Kretschmer ist mit seinem alten Motorrad um die halbe Welt gefahren. Das hat ihn verändert.
Da steht sie in der Garage, seine Yamaha XT 600. Blau und mit 26 Jahren auf dem Buckel gut sieben Jahre älter als ihr Besitzer. 24000 Kilometer hat das Motorrad auf dem Tacho, als Henri Kretschmer es vor gut einem Jahr kauft und auf Vordermann bringt. Mittlerweile sind fast 50000 weitere dazu gekommen. Denn der junge Mann aus Wattenscheid ist mit seinem Motorrad nach dem Abitur um die halbe Welt gefahren. „Ich hatte immer schon Bock auf Abenteuer.“
Henri sitzt im Garten seines Elternhauses. Groß und kräftig. Sympathisches Lächeln, ruhige Art. „Ruhiger als früher“, wird seine Mutter später sagen. Wenn man ihn bittet, zu erzählen, dann überlegt er kurz. Wo soll er anfangen, wo aufhören? „Ich habe so viel erlebt.“ Mehr jedenfalls, als er erwartet hat. Und mehr, als seinen Eltern lieb war.
„Meine Mutter fand die Idee nicht gut.“
Die sind nicht wirklich begeistert, als ihr Sohn ihnen seine Pläne offenbart. Einen Flug in die Ferne wollen sie ihm zum Abitur ja gerne schenken. Aber mit einem selbst ersparten Motorrad zurück nach Deutschland? Vater Fredi kann das als alter Biker zumindest noch nachvollziehen. „Aber meine Mutter fand diese Idee nicht gut.“ Trotzdem ist sie irgendwann einverstanden.
Aller Anfang in Asien ist allerdings schwer. Als Henri sein zuvor nach Singapur verschifftes Motorrad im Hafen abholen will, teilt man ihm mit, dass ausländische Motorräder dort gar nicht fahren dürfen. Für 200 Dollar muss er die Yamaha per Schiff ins nur wenige Kilometer entfernte Malaysia bringen lassen. Erst dann kann es losgehen. „Ich wollte soweit fahren, wie ich komme.“ Er kommt weit. Thailand, Laos, Vietnam, Myanmar, Indien, Pakistan, Iran, Armenien, Georgien, Türkei, Griechenland, Mazedonien, Montenegro, Bosnien, Kroatien, Slowenien und Österreich. Gut zehn Monate ist Kretschmer unterwegs – mit leichtem Gepäck schmalem Budget und offenen Augen.
Die Reise führt durch endlose Wüsten und über den Himalaya
Er fährt vorbei an kaum besuchten Traumstränden, kämpft sich durch das Verkehrschaos in Bangkok oder Neu Delhi. Er schwitzt in heißen Wüsten und friert im Schnee der Berge des des Himalaya. Weniger als 100 Kilometer sitzt er keinen Tag im Sattel, einmal sind es 600 Kilometer am Stück.
Er schläft in überfüllten stickigen Hostels, seinem kleinen Zelt oder bei Einheimischen. „Ich habe immer wieder eine unglaubliche Gastfreundschaft erlebt.“ Oft teilen seine Gastgeber nicht nur ihr Essen mit ihm, sondern auch ihr Wissen. Sie sagen ihm, was er sehen, worauf er achten muss. Und oft haben sie Adressen. Von Angehörigen oder Freunden, die ihn aufnehmen.
Durch Pakistan geht es nur mit einer Militär-Eskorte
Natürlich läuft nicht alles glatt. Sein Motorrad macht so gut wie keine Probleme. Mal fehlt plötzlich ein Visum für die Einreise, mal angeblich ein wichtiges Papier für das Motorrad. Und immer wieder wird der Deutsche von einheimischen Polizisten angehalten, weil er gegen irgendwelche dubiosen Verkehrsregeln verstoßen haben soll. Für umgerechnet 90 Dollar, teilt ihm der erste Beamte mit, könne man natürlich alles vergessen. „Ich habe ihn dann auf fünf Dollar herunterhandelt.“ Später haut er sogar manchmal einfach ab, wenn ihn die Polizei anhalten will.
War das nicht gefährlich? „Eigentlich nicht“, sagt Henri. „Man sieht den Beamten nach einiger Zeit meistens an, ob sie einen verfolgen werden oder nicht.“ Angst, sagt er, hat auch nur einmal gehabt. In Quetta, einer durch Terrorismus extrem gefährlichen Stadt in Pakistan, die er nur mit starker Militär-Eskorte durchqueren kann. „So eine angespannte Atmosphäre hatte ich noch nie gespürt.“ Zu Hause in Deutschland macht die Reiseroute die Sorgen nicht kleiner. „Zum Glück habe ich vieles erst hinterher erfahren“, sagt Mutter Marita.
Schon ein einfacher Wasserhahn kann Luxus sein
Seit wenigen Wochen ist Henri nun wieder in Wattenscheid. „Verändert hat sich hier eigentlich nicht viel, hat er festgestellt. Anders als er selber. Seine Mutter nennt ihn „erwachsener“, er hält sich zumindest für „selbstständiger“. Aber das ist nicht das entscheidende. Die Eindrücke der Armut, „die vergisst man nicht so einfach“. „Für mich ist nichts mehr selbstverständlich“, sagt Henri. Schon ein einfacher Wasserhahn, hat er festgestellt, „kann Luxus sein“.
Robuste und zuverlässige Enduro-Maschine
Die Yamaha XT 600 ist eines der populärsten Enduro-Motorräd er der 1980er und 1990er Jahre. Sie galt und gilt als robust, dauerhaft und zuverlässig
Den e xakten Weg und viele Bilder von Kretschmers Reise kann man im Internet unter https://www.polarsteps.com/HenriKretschmer sehen.
Im Herbst fängt er an zu studieren. „Maschinenbau.“ Vielleicht wird er anschließend noch eine Lehre als Zweirad-Mechatroniker machen. Wenn er nicht wieder unterwegs ist. „Irgendwann“, steht für Henri bereits jetzt fest, „fahre ich mit dem Motorrad um die ganze Welt.“