Herne. Drei Fälle von sexuellen Übergriffen durch Jugendliche erschüttern Mülheim und Herne. Welche Rolle spielt der immer frühere Konsum von Pornos?
Eine große Menge Wodka sollen zwei Jungen in Herne einer 14-jährigen Mitschülerin gegen ihren Willen eingeflößt haben, bevor sie sie am Sportpark Eickel in ein Gebüsch zogen. Ob es dort zu einem sexuellen Übergriff kam, muss nun die Polizei ermitteln. Der Fall ereignete sich schon am 13. Mai, wurde aber erst am Mittwoch bekannt, nach der Berichterstattung über zwei Übergriffe in Mülheim. Dort hatten Gruppen von Kindern und Jugendlichen eine Frau vergewaltigt und eine 15-Jährige begrapscht.
Der Herner Fall sei anders gelagert, sagt Polizeisprecher Volker Schütte, da sich die Jungen und das mutmaßliche Opfer „sehr gut kannten“. Doch gemeinsam ist ihnen, dass sexualisierte Gewalt von sehr jungen Tatverdächtigen ausgegangen sein soll. Eine Häufung von Vergewaltigungen und sexueller Nötigung durch Kinder und Jugendliche ist aus der Polizeistatistik nicht abzuleiten. Zwar zeigt der Zehnjahresvergleich für NRW eine Zunahme von 190 auf fast 300 Fälle im Jahr 2017, aber die ist statistischer Natur, da kurz zuvor neue Straftatbestände geschaffen wurden. Vergleicht man die Zeit davor, gab es 2016 ungefähr gleich viele Fälle wie 2008.
Auch Jörg Syllwasschy glaubt, dass die schweren Fälle nicht zunehmen, sondern nur medial stärker wahrgenommen werden. Der Psychologe arbeitet für Pro Familia in Bochum mit jungen Opfern wie Tätern gleichermaßen. Bei Missbrauch aus der Gruppe heraus gehe es in der Regel darum: „Wie kriegt der Stärkste es hin, dass die anderen ihm folgen.“ Regelüberschreitung ist ein beliebtes Mittel. Und Vergewaltigungen mit ihrem starken Täter-Opfer-Machtgefälle sind hier wohl der krasseste Ausdruck.
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Oft filmen Jugendliche ihre Taten. Dies erhöht die eigene Position und erniedrigt das Opfer umso mehr – weswegen Syllwasschy sagt: „Das Handy verleitet dazu, solche Sachen zu machen.“ Die Zunahme des Pornokonsums spiele eine eher indirekte Rolle, erklärt der Sexualberater. „Pornografie aktiviert emotional. Man empfindet Erregung oder Ekel. Aber es ist eher so, dass jemand der Spaß an Gewalt hat, sich bestimmte Filme sucht.“
Die Lust an der Grenzüberschreitung
„Die neuen Medien heizen an und bestärken die Denkrichtung, dass eine Grenzüberschreitung möglich ist“, sagt Syllwasschy. Was auch auf Medienberichte und frauenverachtende Liedtexte zutrifft. Wenn man zum Beispiel öfter von K.o.-Tropfen höre, könne man auf die Idee kommen sie auszuprobieren. Gangster-Rap hat einen „Effekt auf meine Sprache. Es ist eine Erlaubnis anders zu sprechen und zu denken, die mir die Musik gibt.“ Doch um empfänglich zu sein, müssten die Jungen in aller Regel selbst Gewalt und Macht-Ohnmacht-Erfahrungen in der Familie erlebt haben.
Tatsächlich spielen Pornos eine immer größere Rolle in der Sexualentwicklung. Mit 14 Jahren haben die Jungen im Schnitt ihre erste Begegnung mit Pornografie, die Mädchen acht Monate später, so eine Studie der Unis Hohenheim und Münster von 2017. Dies ist jedoch nur ein Durchschnittswert: Ein Drittel der Jugendlichen hat bereits mit 12 Jahren harte Sexfilme im Netz gesehen.
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Der Erstkontakt findet „im heutigen Online-Zeitalter schon sehr früh statt, selbst mit teilweise jugendgefährdenden Inhalten“, erklärt der Kommunikationswissenschaftler Thorsten Quandt. Dabei geht nur die Hälfte der jungen Nutzer gezielt auf Pornoseiten. Die anderen werden meist von Freunden „mit etwas konfrontiert, was sie weder sehen wollen noch richtig verstehen“. Pornos seien kein Randphänomen, so der Kommunikationswissenschaftler. „Es ist eine weit verbreitete Form der jugendlichen Mediennutzung.“
Aufklärung durch Sexfilme
Tatsächlich empfindet ein Teil der Jugendlichen die Pornos sogar als aufklärend. In der Studie „Jugendsexualität“ (2015) der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung heißt es, dass jeder dritte 14-Jährige angab, beim Anschauen von Sexfilmen „wichtige Informationen“ über Sexualität bekommen zu haben. Bei den Mädchen dieses Alters waren es nur sechs Prozent. Für die allermeisten bleibt dies nicht die einzige Informationsquelle – doch ob Beratungsseiten, Wikipedia oder Chats aufgesucht werden, hängt auch vom Bildungsgrad ab. Und die Konsumenten von Sexfilmen informieren sich tendenziell weniger.
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Die Studienautoren fragten auch, ob zum Beispiel Pornografie und Missbrauch in der Schule thematisiert worden seien. Auffällig sei, dass Jungen mit Migrationshintergrund deutlich seltener angaben, im Unterricht über das Thema Missbrauch geredet zu haben als Mädchen. Auch bildungsabhängig würden einige Themen unterschiedlich stark behandelt oder erinnert, so die Autoren, „vielleicht auch je nachdem, wie sehr das Thema interessierte und die persönliche Situation tangierte“.
„Der Jugendliche kann nicht immer unterscheiden zwischen Schau und Realität“, sagt Jörg Syllwasschy. „Ihm fehlt einfach die Lebenserfahrung. Kann man den Kopf in die Scheide einer Frau stecken? In jeder Schüler-Gruppe, die wir besuchen, gibt es jemanden, der dieses Bild im Internet gesehen hat. Es ist eine Fälschung. Aber ich hab’s gesehen, also gibt es das.“ Pornos in diesem Alter zu schauen, sagt der Berater, sei wie Formel-1-Gucken ohne Führerschein. Man könne überhaupt nicht einordnen, was dort passiere.