Düsseldorf. . Im Prozess sagt der letzte Nebenkläger aus. Er war mit seiner Tochter (4) in Duisburg, ist heute schwer krank. Durch die Loveparade?
Dieser Mann ist wohl einer der Prominentesten unter den Überlebenden der Duisburger Loveparade, er hat sich selbst dazu gemacht. Trat als Sprachrohr auf, als Streiter, als Kümmerer für die Opfer, fast neun Jahre lang. Nun aber will er nicht mehr. Nicht mehr streiten, sich nicht mehr um andere kümmern, eigentlich nicht einmal mehr darüber reden, aber an diesem Mittwoch muss er: Der 44-Jährige ist Zeuge im Düsseldorfer Prozess.
Sie hatten Zweifel im Messesaal, in dem der Prozess seit bald eineinhalb Jahren läuft, dass er diesmal kommt. So oft hat der Mann aus Sprockhövel abgesagt, galt als verhandlungsunfähig. Doch diesmal erscheint er: Zu spät, sehr langsam und gebeugt betritt er den Saal, in der Jackentasche eine Schachtel Beruhigungsmittel. Unschlüssig bleibt er stehen vor der Richterbank, setzt sich nur zögernd, vergräbt den Kopf in seinen Händen, weint viel. Er ist der allerletzte Zeuge aus den Reihen der Nebenkläger; es geht schon seit einem Jahr um die handelnden Personen im Vorfeld und am Tag der Loveparade.
Durch einen Seiteneingang auf das Festgelände
Auch er sei dabeigewesen, sagt der 44-Jährige, es war ein Zufall: Sein Vater habe ihn mitgenommen nach Duisburg an jenem Tag, er wollte gar nicht zur Loveparade, aber dann ging er doch gucken. Jemand habe ihn durch einen Seiteneingang auf das Gelände gelassen, weil er seine kleine Tochter dabei hatte, die war damals vier. Sie guckten aus der Ferne zu den Musikwagen, wollten wieder gehen, aber das ging nicht. „Sie können hier nicht raus, Sie müssen den Weg runter“, habe ein Polizist gesagt und auf die Rampe gewiesen. Den Ort, an dem später 21 Menschen im Gedränge starben.
Der Zeuge erzählt, wie er in eine Böschung fiel, wie er ein zweites, fremdes Kind begleitete, seine Tochter auf den Schultern trug. Wie voll es war, „es wird gleich besser“, habe jemand gesagt, aber das stimmte nicht. „Es wurde immer enger“, berichtet der 44-Jährige, später wird er den Richter bitten, weniger oft das Wort „eng“ zu sagen. Da hat ihm ein Arzt, der ihn als Gutachter begleitet, bereits geraten, eine weitere Beruhigungspille einzunehmen. Er habe sich durch die Menge geschoben mit den Worten: „Ich hab’ ein Kind“, heißt es in der Aussage weiter, im Tunnel sei ein Fußball geflogen, ein Wagen mit Blaulicht gefahren, die Leute hätten gegrölt: „Das war so schweinelaut.“
In seiner Erinnerung gibt es kein Geräusch
Das allerdings passt nicht zu dem, was der Zeuge auch sagt: In seiner Erinnerung sei alles still. Kein Geräusch. Er weiß, dass das nicht sein kann, aber er hat aufgehört zu versuchen, die Bilder passend zu machen. „Ich versuche das seit neun Jahren zu sortieren, aber ich kriege das nicht hin.“ Er will „nichts mehr erzählen, was andere mir erzählt haben, ich habe keinen Ton, ich habe keinen erkannt“. Was er weiß, weiß er von Tausenden Filmminuten, die er wieder und wieder ansah seither. Seine eigene, die reduzierte Geschichte aber, die irgendwo in der Mitte ein großes Loch hat, erzählt er genau so seit Jahren. Sie war im Fernsehen, sie war in der Zeitung, auch in dieser. Sie geht immer gleich, obwohl Menschen ihn auch beschimpften dafür: „Sie haben mir Scheiße vor die Tür geworfen“, ihn beim Jugendamt gemeldet, weil er ein Kindergartenkind mit zur Loveparade nahm.
Die Juristen aber zweifeln: Ein Verteidiger eines im Januar aus dem Prozess entlassenen früheren Angeklagten hat Strafanzeige erstattet. Er glaubt, der Mann habe sich zu Unrecht in die Reihen der Nebenkläger aufnehmen lassen. Mehr noch, er sei gar nicht bei der Loveparade gewesen. Das wäre Betrug, die Staatsanwaltschaft ermittelt in gleich zwei Verfahren. Tatsächlich ist der 44-Jährige nach der Duisburger Technoparty zweimal auf weiteren Großveranstaltungen gewesen, bei „Ruhr in Love“ und am Nürburgring, jedesmal aber sei das „schiefgegangen“.
Vereinsarbeit aus der Angst heraus, allein zu sein
Ärztliche Atteste und Gutachten bescheinigen ihm Angstzustände und Panikattacken, Schlafstörungen und eine Posttraumatische Belastungsstörung. Vier Jahre nach der Loveparade erlitt der Familienvater einen schweren Herzinfarkt, musste mehrfach operiert werden. Trotzdem engagierte er sich für andere Opfer: gründete einen Verein, organisierte Gedenkfeiern, pflegte die Gedenkstätte. Und war immer ansprechbar, sein Handy, erzählte er einen Monat vor Prozessbeginn, klingelte Tag und Nacht. „Aus Angst“ habe er das gemacht, „aus Angst, selbst allein zu sein.“
Die ihn um Hilfe baten, sprachen dankbar von ihm, Beobachter sorgten sich: „Er schont sich nicht, der geht daran kaputt.“ Heute hat der 44-Jährige alle Vereinsämter abgegeben, viele Nummern aus seinem Telefonbuch gelöscht. „Jetzt habe ich Probleme, aber zu mir kommt keiner“, sagt er am Mittwoch bitter. Wenn die Aussage hinter ihm liegt und vielleicht auch das Verfahren gegen ihn, wolle er endlich eine stationäre Therapie machen. „Du musst Abstand gewinnen“, habe ihm ein Arzt gesagt, „sonst holt es dich ein.“ Der Zeuge selbst hat das eingesehen: „Ich will nur noch Ruhe haben.“