Essen. Thermometer funken Messdaten, Studenten lernen virtuell den OP kennen, Software revolutioniert die Diagnose – ein Besuch am Essener Uni-Klinikum.
Gleich in der ersten Folge von „Dr. Snuggles“ erfindet der Zeichentrickprofessor eine robotische Haushaltshilfe namens Mathilde Dosenfänger. So haben die Apotheker der Uniklinik Essen ihre neue Kollegin genannt. „Mathilde Dosenfänger“ steht über dem Glaskasten, in dem ein weißer, ja, schicker Roboterarm – der italienische Hersteller sitzt unweit von Ferrari – Arzneien mischt. Er greift Flaschen oder Beutel, die ein Mensch ihm hinlegt, prüft den Inhalt, wiegt, zieht genaue Mengen auf die Spritze, gibt sie zu anderen Substanzen, wiegt erneut und wirft das fertige Krebsmedikament aus. So stellt man sich das Krankenhaus von morgen vor. Doch das ist nur ein Anfang – die radikalsten Veränderungen sieht man nicht.
„Bei uns schreibt keiner mehr den Blutdruck auf“
Auf dem Weg zum digitalen Krankenhaus müssen sämtliche Prozesse, Verhaltensweisen, Geräte umgestellt werden. Die Mikroskope in der Pathologie senden ihre Daten an Computer, selbst die Thermometer in der Notaufnahme funken schon heute. „Bei uns schreibt keiner mehr den Blutdruck auf“, sagt ihr stellvertretender Chef Dr. Joachim Riße. Auch das EKG und das Beatmungsgerät – alle Technik schickt ihre Messdaten ohne Umweg in die elektronische Patientenakte. Tatsächlich, dieses Wunderding, über das die Bundespolitik seit 15 Jahren diskutiert, gibt es in Essen und wenigen anderen Kliniken bereits – als Insellösung. „Wir können nicht warten“, wiederholt der Ärztliche Direktor Jochen Werner. Die Kosten zahle die Uniklinik komplett aus eigener Tasche: „Es ist nicht mehr die Zeit für große Abstimmungen. Wir haben einen Auftrag als Uniklinik, Impulsgeber zu sein. Und heute ist der Impuls die Digitalisierung.“
Es half, dass die Notaufnahme neu gebaut wurde und nicht im laufenden Betrieb geändert werden musste. „Ziel ist, es komplett papierfrei hinzubekommen“, sagt Riße. „Fürs Haus drucken wir nichts mehr aus, nur noch für die Patienten.“ Freilich wollten am Anfang einige Stationen noch Papierberichte haben, aber immer wieder hat das Team ihnen erklärt, wo die Informationen gespeichert sind.
In Medico. Vor der Einführung dieses Krankenhausinformationssystems hatte fast jede Klinik ihre eigene Lösung, es war Wildwuchs. Heute werden die Ärzte in der Notaufnahme vom Computer durch den Prozess der Aufnahme geleitet. „Man vergisst nichts“, sagt Riße. „Aus den Befunden heraus wird der Bericht automatisch geschrieben.“ Am liebsten würde Riße pulsmessende Armbänder anschaffen, die jeder Patient sofort bekommt. „Das würde bei der Priorisierung helfen“ und bei Gefahr warnen. Zunächst will Riße aber in einer Studie „Fitnessarmbänder gegen unser Monitoring laufen lassen“, um herauszufinden, was sie wirklich taugen.
Die Diagnose wird sich grundlegend verändern
Wozu aber soll diese Datensammelei gut sein? – Mustererkennung! Denn dies die Grundlage von Künstlicher Intelligenz: Über die Muster in Röntgen- und Mikroskopbildern, in EKGs und Tonaufnahmen, in Fitnessprofilen und Patiententagebüchern werden sich Krankheiten viel schneller entdecken und bestimmen lassen – was auch zu maßgeschneiderten Therapien führen wird. „Heute dauert es im Schnitt sieben Jahre, bis eine seltene Krankheit erkannt wird“, sagt Jochen Werner. Künftig könnten es Wochen sein. Die Patienten müssen in der Diagnostikmaschine viel weniger Leid ertragen.“
Die einzelnen Disziplinen sind unterschiedlich schnell bei der Einführung von Künstlicher Intelligenz. Am weitesten ist die Radiologie, die schon seit 20 Jahren digital arbeitet. „In naher Zukunft“ soll die Software in Essen zum Beispiel Veränderungen von Tumoren nachhalten. Ja, selbst das Stethoskop, Erkennungsmerkmal und Statussymbol des Arztes, steht nach Werners Meinung vor dem Aus. Eine Maschine könne die Muster in der Atmung besser interpretieren.
Auf der Frühchen-Station machen das derzeit noch Dr. Britta Hüning und die Ergotherapeutin Anne-Kathrin Dathe: Sie haben eine Video-Diagnose für Babys eingeführt, bei der die Eltern ihr Kind selbst filmen können. Aus den Bewegungsmustern kann man auf Entwicklungsstörungen schließen.
Studenten können virtuell Operationen beobachten
Und der Kardiologe Prof. Tienush Rassaf produziert bei seinen Operationen Lehrvideos für seine Studenten – für die Virtual-Reality-Brille in 3D. „Wir bieten auch immer an, bei OPs dabei zu sein. Es schafft nur kaum noch einer. 70 bis 80 Prozent sind Frauen, viele haben Kinder.“ Rassaf hat also eine 3D-Kamera angeschafft, eine Stelle beantragt und viel experimentiert mit Einstellungen, Ton und Schnitt. Er will das Projekt ausweiten: Wie untersuche ich einen Patienten richtig? Wie führe ich ein Gespräch? Wie höre ich ein Herz ab? „Es ersetzt nicht das Lehrbuch, es soll ergänzen“, sagt Rassaf. Auch Hausärzte und ihre Patienten könnten profitieren, wenn Sie eine bessere Vorstellung bekommen, welche neuen Verfahren es gibt. „Neulich kam eine 89-Jährige zu mir mit ihrem Tablet. Sie sagte: Doktor Google hat’s mir schon erklärt. – Ich sagte: Ja, wir haben’s noch besser.“
Das passt zum Ansatz von Jochen Werner, das „smarte“ Krankenhaus habe „keine Mauern, es ist nur begrenzt durch die Krankheitsgeschichte des Patienten“. Es wird sich viel stärker vernetzen mit niedergelassenen Ärzten, Apotheken und anderen Kliniken – wenn der Datenschutz es zulässt. „Wenn ich provokativ sein will“, erklärt Werner, „sage ich #ToddurchDatenschutz. Es sterben immer wieder Menschen weil Informationen auf dem Weg von A nach B verloren gehen.“ Die Uniklinik hatte demnach ordentlich zu kämpfen, bis sie ihre Patientendaten mit ihren eigenen spezialisierten Tochterkliniken teilen durfte. „Wir warten auf den nächsten Schritt, dass Verbindungen zwischen Krankenhäusern leichter werden.
Müssen sich die 8500 Mitarbeiter Sorgen machen?
Es werde Arbeitsplatzverluste geben, sagt Werner, aber an anderer Stelle entstünden neue Aufgaben. „Assistenzärzte verbringen 60 Prozent ihrer Zeit mit nichtärztlichen Tätigkeiten.“ Auch der Pflegenotstand ist für den Chef des Krankenhauses „ganz maßgeblich das Ergebnis fehlgeleiteter Arbeit“. Die ersten Pflegeroboter werden Pfleger keineswegs ersetzen, sondern in Form selbstfahrender Wagen ihre Lasten kutschieren. Sie sollen wieder mehr Zeit für die Patienten bekommen. Und wie lange man nach einem Ultraschallgerät suchen kann! Riße in der Notaufnahme will all seine mobilen Maschinen ausgestattet mit Bluetooth-Sensoren.
Auch Apothekenchef Joachim Schnurrer, der Vorgesetzte von Mathilde Dosenfänger, sagt: „Es geht nicht darum, Stellen wegzurationalisieren, sondern darum, die knappen Fachkräfte besser einzusetzen. Für andere Aufgaben, für die die Kliniken Schlange stehen.“ Noch mache der Medikamentenroboter die Produktion nicht schneller – mehr Sicherheit und Qualität seien das Ziel. „Wir trennen die Mitarbeiter von toxischen Stoffen.“ Und es gehe um „altersgerechte Arbeit“, um das Vermeiden berufsbedingter einseitiger Belastungen. Wir lernen, es gibt eine Spritzenschulter ... nein, es gab.
>> Info: Patienten einbinden
Das Uniklinikum hat 2017 das „Institut für Patientenerleben“ gegründet. „Wir wollen Patienten mehr einbinden“, sagt Direktor Jochen Werner.
Es geht um Rückmeldungen und Anregungen mit dem Ziel, mehr Wohlfühlcharakter in den Aufenthaltsbereichen zu schaffen. Eine angehörigenfreundliche Intensivstation soll entstehen, ein Kulturwandel in der Kommunikation soll einsetzen.
„Unsere Vision ist es, in den nächsten Jahren die Universitätsmedizin in Deutschland mit dem besten PatientenErleben zu werden“, heißt es in der Selbstdarstellung. www.patientenerleben.de