Gelsenkirchen. . In Gelsenkirchen sprechen zwei Generationen über Europa. Vier Rentner erzählen von früher, elf Schüler wollen künftig „dankbarer sein“.
Als Milena, Yannik, Nico oder Laura kann man heutzutage ja nicht wissen, wie das Leben ohne ein einiges Europa war. Als Gisela oder Herbert schon. Weshalb Schüler und Rentner am Mittwoch in Gelsenkirchen diskutieren über diese Frage: „Wir sind Europa, was bedeutet das für uns?“ Dasselbe und viel Gutes, stellen sie nach zwei Stunden fest – nur haben die Jungen das noch nie bemerkt.
Sie haben sie zusammengesetzt am Max-Planck-Gymnasium, morgens um acht, mit Schokoriegeln und Blümchen auf den Pulten. Elisabeth Hummelt, 68, fast ein wenig aufgeregt, „ich möchte endlich mal wieder auf einer richtigen Schulbank sitzen“. Gisela Majewski, 85, mit ihrem T-Shirt: „Jetzt oder nie!“ Den ehemaligen Bergmann Wolfgang Steffen, 68, Herbert Milinski, 66, und elf erwartungsvolle Abiturienten: „Ich weiß noch nicht“, gesteht Lea, 18, „wie ich zur EU stehe“, und Laura, 18, hat sich „noch nie damit beschäftigt“ – außer in diesem Sowi-Kurs. Nun aber sollen sie reden, organisiert hat das die Initiative „Wir sind Europa“, die mit ihren Werkstattgesprächen nach zwei Jahren zum ersten Mal im Westen ist. Sie seien gespannt, sagen die Schüler, „was hier herauskommt“.
Für Gisela (85) wäre ein Ende der EU „der Untergang“
Es kommt heraus, dass sie sich ein Leben ohne Europa gar nicht vorstellen können. Sie sollen darüber nachdenken: Was, wenn es die EU nie gegeben hätte, was, wenn es Europa 2050 nicht mehr gibt? „Ohne Europa keine Vorteile“, wird Arbeitsgruppe 3 notieren. „Wir haben“, sagt Lea, „von der netten Dame erfahren, dass nach dem Krieg alles viel besser war, und dass man das schätzen soll.“ Die „nette“ Gisela mit ihren 85 ist eine überzeugte Europäerin, in ihrem schwarzen Notizbuch hat sie nicht viel aufgeschrieben unter der Überschrift „Ohne EU“. „Für mich wäre das der Untergang.“ Auch für Wolfgang ist der Krieg Thema, „bewaffneter Konflikt“, schreiben die Schüler, „wir hätten den wahrscheinlich schon mehrfach gehabt; jeder Staat würde ja allein rumwurschteln“. „Sein Süppchen kochen“, sagt Gisela.
Aber natürlich haben die „Alten“ nicht nur vom Krieg erzählt. Sie reden von der Regelungswut und der „krummen Banane, aber worauf es ankommt“, sagt Herbert, „versuchen sie in Brüssel zu verstecken“. Sie sprechen von der guten Zusammenarbeit, „in der Gruppe geht alles, auch Bäume ausreißen“, findet Elisabeth. „Aber der Einzelne fühlt sich allein wie am Marterpfahl.“ Ob 28 Staaten „das richtige Maß waren, wird die Geschichte uns zeigen“, sagt die 68-Jährige, „aber hätten wir uns nur mit den Niederlanden zusammengetan, gäbe es allenfalls mehr Vanille-Vla“.
Herbert (66) musste „dumme Sachen mitmachen“
Die Schüler ihrerseits sind vorbereitet, sie sorgen sich um den technischen Fortschritt, der ihnen in der EU zu langsam vorkommt, sie finden, dass in der Flüchtlingskrise „nicht alles ganz glatt gelaufen ist“ (Tim), sie haben Angst vor Diktaturen und davor, dass manche Länder „Extrawürste“ kriegen. Und sie wünschen sich, dass auch die Medien, die sie nutzen, ihnen von Europa erzählen: Youtube, Instagram, „unsere Kanäle“, sagt Lea, und Melissa klagt: „Ich fühle mich mit meinen 18 Jahren so hineingeworfen.“
Dabei ist sie mittendrin, erinnert Herbert: „Ihr seid so herrlich jung, ihr seid da reingewachsen.“ Der 66-Jährige musste „noch einige dumme Sachen mitmachen, zum Beispiel Grenzkontrollen“. Auch Wolfgang gibt zum Besten, wie „ganz geil“ das war, als er einst erstmals reiste „mit so einem Portemonnaie“, er breitet die Hände ziemlich weit aus, zählt Lire auf, Gulden und Schillinge. Die Schüler an seinem Tisch gucken kurz, als hätten sie diese Namen noch nie gehört. „Wir könnten ohne EU nicht so einfach reisen“, sagt Yannik, und leise: „Aber wir kennen das gar nicht anders.“ Und es ist ja nicht so, dass die Reisefreiheit nur für Menschen gilt: auch für Waren, die sie bestellen, all die schönen Sachen, die der Paketdienst bringt, und dann die Möglichkeiten, im Ausland zu studieren oder zu arbeiten! „Work and Travel“, sagt Lea, „das wollen ja viele von uns machen nach dem Abitur.“
Die 85-Jährige wird Europa 2050 nicht mehr erleben
Sie einigen sich also darauf, dass die Option „ohne EU“ keine ist. „Ich sollte dankbarer sein“, sagt Lea zum Abschluss. Nico staunt ein bisschen: „Bisher war die EU für mich weit weg, eine Organisation, die nicht viel mit mir zu tun hatte.“ Wählen wollen sie gehen, sich mit Europa auseinandersetzen, den noch Jüngeren davon erzählen. Das alles nach zwei Stunden mit vier älteren Menschen? Aber auch die haben etwas gelernt: „Mir ist bewusst geworden“, sagt Elisabeth, „wie wichtig mein Kreuz bei der Europawahl auch für die junge Generation ist.“
Wie also wird dann dieses Europa in 30 Jahren? Größer, glaubt Gisela, man müsste noch viel mehr Länder integrieren. „Erst stabilisieren“, mahnt Milena, „bevor man noch mehr aufnimmt.“ Eine gemeinsame Armee müsste es geben, einheitliche Standards, an die sich alle halten. „Man muss alle überzeugen“, meint Wolfgang, „aber man muss natürlich auch verzichten.“ Mehr Zusammenarbeit in Energiefragen fordert Jan, „damit wir sauber leben können“. Ach, und viel weniger Ungleichheit, zwischen den Menschen, zwischen den Ländern, das fänden sie alle schön. Gisela ahnt, das wird sie nicht mehr erleben: „In 30 Jahren! Da gucke ich euch von oben zu.“ Doch da weiß Nico Trost: „Wir schreiben Ihnen eine Postkarte.“
>> „WIR SIND EUROPA“ TOURT DURCHS LAND
„Wir sind Europa“ ist eine Initiative der Stiftung Zukunft, der Internationalen Journalistenprogramme (IJP) und der Humboldt-Universität Berlin. Wissenschaftler, Journalisten, Kulturschaffende haben sich gemeinsam auf die Fahnen geschrieben: „Wir wollen, dass Europa gelingt.“
Mit einer Reihe von Werkstattgesprächen und Veranstaltungen tourt die Initiative derzeit durch Deutschland. Gelsenkirchen war zu Wochenbeginn die erste Station im Westen der Republik. Am Mittwochabend diskutierten Bürger, Journalisten und Politiker in der „Flora“ darüber, wie sich Europa gestalten lässt.