Ruhrgebiet. . Suizide sind nur die Spitze des Eisbergs, sagt die Kölner Cybermobbing-Expertin Dr. Catarina Katzer. Aber die Zahlen nähmen zu.
Eine Elfjährige will nicht mehr leben, weil sie von anderen Grundschülern gemobbt wird? Ein Kind nimmt sich das Leben? Noch sind Todesursache und Hintergrund des erschütternden Falls aus Berlin, der am Wochenende öffentlich wurde, nicht mit letzter Gewissheit geklärt – aber er bewegt das Ruhrgebiet. Mit der Kölner Sozialpsychologin Dr. Catarina Katzer (45), Leiterin des Instituts für Cyberpsychologie & Medienethik, sprach Ute Schwarzwald über das Thema Mobbing.
Sollte sich die Vermutung bestätigen, dass dem Suizid der elfjährigen Grundschülerin in Berlin Mobbing vorangegangen ist – kennen Sie ähnliche Fälle aus NRW oder ist das eine absolute Ausnahme?
Katzer:Fälle wie diese sind zum Glück eine Ausnahme – allerdings wissen wir, dass die dauerhafte Belastung in den letzten Jahren zugenommen hat: Etwa 30 Prozent der Mobbing- und Cybermobbingopfer sind dauerhaft traumatisiert. Kollegen, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie arbeiten, äußern, dass die Zahlen von selbstverletzendem Verhalten und Suizidversuchen in den letzten Jahren in Zusammenhang mit neuen Mobbingformen deutlich zunehmen.
Traumatisierungen, Depressionen, Rückzug
Gibt es „typische“ Mobbing-Opfer?
Wir wissen, dass gerade die Pubertät einen „Peak“ abbildet, Mädchen sind etwas mehr involviert, aber auch der Übergang von Schule zu Beruf und Studium zeigt höhere Zahlen. Allerdings sind auch Grundschulen von Mobbing und Cybermobbing betroffen: Jeder zweite Grundschullehrer wurde bereits mit Fällen konfrontiert. Aus Sicht der Lehrer treten die häufigsten Fälle in Gesamtschulen und Realschulen auf, gefolgt von Gymnasien und Hauptschulen. In Schülerstudien treten allerdings die häufigsten Fälle gerade von Cybermobbing in Berufsschulen, Realschulen und Hauptschulen auf.
Was sind die Folgen für die Opfer?
Traumatisierungen in circa einem Drittel der Fälle, Depressionen, psychosomatische Beschwerden, Rückzug, bis hin zu selbstverletzendem Verhalten oder Suizidversuchen. Wobei Suizide zum Glück die Spitze des Eisberges sind – allerdings wachsen die Zahlen seit Jahren an.
Seit wann gibt es Mobbing, ein ganz neues Phänomen ist das ja nicht…?
Mobbing wurde in den 70er-Jahren als erstes von Dan Olweus erforscht. Allerdings hat sich Mobbing verändert, es ist digitaler und mobiler geworden. Smartphones werden immer häufiger zur Waffe. Dadurch verschärfen sich allerdings auch die traumatisierenden Wirkungen. Denn Cybermobbing ist extrem öffentlich durch soziale Netzwerke, Youtube, WhatsApp; die Opfer haben keinen Schutzraum mehr, denn die Täter kommen über das Smartphone ins Kinderzimmer. Cybermobbing ist häufig endlos – alles was „gelöscht“ wurde, kann doch wieder irgendwo auftauchen, durch Screenshots, Kopien auf Festplatten, Smartphones etc.
Die „Gangart“ ist deutlich härter geworden
Gefühlt ist die Gangart in den letzten Jahren deutlich härter geworden...
Durch die Distanz zu den Opfern über das digitale Handeln fehlt Empathie – man sieht die schmerzhaften Grenzen nicht mehr. Dies lässt die Hemmschwellen deutlich schwinden und man traut sich deutlich mehr als in einer Face-to-Face-Situation.
Was lässt sich darüber hinaus über die Täter sagen?
Wir wissen, dass ein Teil der Täter, etwas ein Fünftel, selbst einmal Opfer wurde – es ist somit ein „Sich-Wehren“. Gleichzeitig kennen wir Risikofaktoren: Schulisches Problemverhalten wie häufigeres Schwänzen, problematische Beziehung zu den Eltern, delinquentes Verhalten wie Vandalismus, Alkoholmissbrauch und ähnliches, fehlende Konfliktfähigkeit und auch eine positive Einstellung zur Gewalt spielen eine Rolle. Mobber wollen über ihr Verhalten häufig ihr Selbstbewusstsein stärken, sich Gehör und Macht verschaffen. Sie suchen Kompensation für etwas, das ihnen fehlt – dies kann auch eine emotionale Vernachlässigung sein, ein „Sich-unverstanden-Fühlen“.
Was kann der Betroffene tun, was die Schule, was Polizei und Staat?
Wenn es passiert: Hinschauen und aktiv werden! Wir brauchen dafür aber ausgebildete Lehrer und Beratungsgruppen in den Schulen als Ansprechpartner (gerade „peer to peer“), an die sich der Betroffene wenden kann. Online-Beratungen können auch hilfreich sein, etwa „save me online“ oder „juuuport“. Im Vorfeld hilft Prävention, bei den Jüngsten anfangen — und das muss gesetzlich für alle Schulen gelten. Gerade für Grundschulen brauchen wir evaluierte Konzepte gegen Cybermobbing. Auch über ein Gesetz wäre nachzudenken – in Österreich und Italien haben wird zum Beispiel einen Cybermobbing-Straftatbestand.