Bochum. . Jugendamtsleiter Dolf Mehring geht nach 18 Jahren in den Ruhestand. Seine schlimmste Zeit erlebte er nach dem Mord an Justin (sieben Monate).

„Mein Herz ist Bochum rauf und runter“, sagt Dolf Mehring. 18 Jahre lang war er Leiter des Jugendamtes. Nun geht der 63-Jährige in den Ruhestand. Mit Linda Heinrichkeit sprach er über die Herausforderungen seines Nachfolgers, den Umgang mit jungen Flüchtlingen und den tragischen Fall Justin.

Herr Mehring, Sie waren fast zwei Jahrzehnte Jugendamtsleiter. Was war anfangs die größte Herausforderung für Sie?

Der ganze Job war eine Riesenherausforderung. Die grundlegenden Arbeitsbedingungen waren schwierig: Bei der Technikausstattung hatten wir einen enormen Nachholbedarf. Im ganzen sozialen Dienst hatten wir einen einzigen Computer – im Jahr 2000. Wir sind damals mit der sozialräumlichen Orientierung der Jugendhilfe gestartet. Wir haben erstmals dafür gesorgt, dass die Leute der einzelnen Abteilungen sich auch kennenlernen. Das war ein dickes Brett, das wir gebohrt haben.

„Vieles lässt zu wünschen übrig“

Was hat sich seitdem verändert?

Es gibt immer noch Baustellen, vieles lässt zu wünschen übrig – in diesem Geschäft gibt es die immer. Das Jugendamt ist extrem gewachsen. Als ich begonnen habe, hatten wir rund 400 Mitarbeiter, mittlerweile sind wir bei 730. Das Jugendamt hat einen Etat von 230 Millionen Euro. Das ist eine gigantische Summe. Wo wir alles drinstecken, überblickt man auch nicht so ganz. Kitas zum Beispiel sind zum großen Teil in freier Trägerschaft, werden aber durch uns und das Land zu 90 Prozent finanziert.

Ihr Nachfolger Jörg Klingenberg hat kürzlich im Jugendhilfeausschuss gesagt, man komme mit der Kita-Versorgung nicht hinterher. Wegen der zugezogenen Kinder werde die Stadt dem Bedarf nicht gerecht.

Die Versorgungslage ist eigentlich gut gewesen, vor allem im Drei- bis Sechsjährigensegment. Aber jetzt haben wir mit steigenden Geburtenzahlen auch in diesem Bereich Probleme, Plätze zu schaffen.

Inwieweit hat sich die Flüchtlingswelle auf die Arbeit des Jugendamtes ausgewirkt, abgesehen von der Kita-Abdeckung?

Ein großes Thema waren die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die Umas. Dann kam nochmal das große Thema der Landeserstaufnahmestelle auf uns zu. Die Menschen sollen dort zwar nur kurz verbleiben, die minderjährigen Flüchtlinge fallen aber in die Zuständigkeit des Bochumer Jugendamtes. Plötzlich hatten wir für ganz NRW diese Frage zu klären. Das war eine gigantische Herausforderung für uns alle. Die Flüchtlingsthematik hat uns rauf und runter beschäftigt.

„Ich habe mir ein dickes Fell zugelegt“

Jörg Klingenberg wird neuer Jugendamtsleiter

Jörg Klingenberg übernimmt am 1. Januar die Position des Jugendamtsleiters. Der 62-Jährige ist bereits seit 35 Jahren im Bochumer Jugendamt tätig. Er war Leiter des Jugend- und Freizeitzentrums Steinkuhl (heute Juma), hat den Spielbus betreut und ist seit 2002 leitend zuständig für Kindertagesbetreuung in Bochum.

Vor zwei Jahren wurde er zum Stellvertreter von Dolf Mehring. „Ich konnte mich immer hundertprozentig auf ihn verlassen“, sagt Mehring. Jörg Klingenberg wird das Amt bis 2021 innehaben, dann geht auch er in den Ruhestand. Er sagt: „Wichtig ist mir, den Übergang und die Qualität zu sichern.“

Schließlich aber auch die Frage, wie man jüngere Kinder und ihre Familien integriert.

Genau. Wie schafft man es, die in Regeleinrichtungen unterzukriegen? Wie schafft man vernünftige Beschäftigungsangebote? Wir hatten großes Glück, ein breites Angebot an Jugendfreizeithäusern zu haben. Dort sind auf einmal ganz viele Familien mit ihren Kindern gelandet, die dort einfach ihre Freizeit verbracht haben. Das war eine erste Auffangstation.

Als Jugendamtsleiter sind Sie oft Ziel von Anfeindungen gewesen, auch persönlichen. Wie sehr bewegt Sie das?

Ich werde vor allem in den sozialen Medien angegangen, es gibt auch gezielte Attacken. Ich habe mir da ein dickes Fell zugelegt, wobei ich auch nicht sagen kann, dass mich das ganz kalt lässt.

Aber Sie verfolgen die Aussagen über Sie gezielt?

Ja, ich gucke schon nach, welche Geschichten über mich verbreitet werden.

Fällt es Ihnen schwer, nicht darauf zu reagieren?

Ich habe es mir total abgewöhnt. Ich erzähle Ihnen ein Beispiel: Ich habe die wirklich erfolgreiche Berufsbildungsmesse mit ins Leben gerufen. Die Messe hat dann eine Schräglage in der Öffentlichkeit bekommen durch die Beteiligung der Bundeswehr. Ich bin bekennender Pazifist und ich bin inhaltlich kein glühender Befürworter der Bundeswehr. Aber wenn wir eine öffentliche Veranstaltung machen, kann ich als Jugendamtsleiter nicht sagen: Weil mir persönlich das nicht passt, muss ich die Bundeswehr ausladen. Das haben mir einige Leute sehr übel genommen – auch mit Anfeindungen, die unter der Gürtellinie waren.

„Der Fall Justin ist uns allen und mir total an die Nieren gegangen“

2005 ist der sieben Monate alte Justin von seinem Stiefvater getötet worden. Die Familie war unter Betreuung des Jugendamtes. Gegen Sie selbst wurde wegen fahrlässiger Tötung ermittelt. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Der Fall Justin ist uns allen und mir total an die Nieren gegangen. Das war der Super-GAU. Kurz nachdem ich hier angefangen habe zu arbeiten, habe ich einen Qualitätsentwicklungsprozess mit dem Landesjugendamt und dem sozialen Dienst gemacht, in dem wir uns mit dem Thema Kindeswohl beschäftigt haben. Wir waren total stolz auf unser Konzept. Dann kam der Fall Justin.

Der Fall Justin: Im Mai 2005 bringen Justins Mutter und ihr Freund den sieben Wochen alten Säugling in eine Kinderklinik in Herne. Die Ärzte stellen akute und alte Knochenbrüche fest und informieren das Jugendamt Bochum. Eine Sozialarbeiterin besucht die Familie, hat einen guten Eindruck, vermerkt, dass die Wohnung einen sauberen Eindruck macht. Ein Arztbericht, der später eingeht und deutlich auf die Frakturen hinweist, wird von der Sozialarbeiterin abgeheftet, ohne vom Gruppenleiter abgezeichnet und weiter beachtet zu werden. Die Familie wird nur noch von einer Kinderkrankenschwester besucht. Am 17. November 2005 verbrüht der Stiefvater den Säugling aus Ärger über dessen Geschrei mit 60 Grad heißem Wasser. Das Paar ruft keinen Arzt, 15 Stunden kämpft Justin ums Leben und stirbt qualvoll. Die Sozialarbeiterin wird später zu einer Geldbuße verurteilt, der Gruppenleiter aus seiner Funktion entlassen, das Ermittlungsverfahren gegen Dolf Mehring nach zwei Jahren eingestellt.

Welche Fehler haben Sie gemacht?

Man kann nie hundertprozentig Kinderschutz herstellen, aber man muss auch, wenn man Dinge festlegt, nachgehen und kontrollieren, ob wirklich so gearbeitet wird. Einzelne Mitarbeiter haben teilweise gesagt: Lass den „ollen“ Chef mal reden, wir machen so wie immer. Da hatten sich Verhaltensweisen eingeschlichen, die so nicht gehen.

Was haben Sie aus dem Fall gelernt?

Der Kinderschutz wurde, vor allem nach Justin, nochmal intensiver ganz nach oben gestellt. Alle, die den Fall miterlitten haben, sind besonders sensibel. Wenn Sie einmal vom Staatsanwalt ein Schreiben kriegen, es wird ein Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung gegen Sie eingeleitet, dann sind Sie auf dem Boden der Tatsachen. Die zwei Jahre Ermittlungsverfahren waren die Hölle.

„Wir halten es nicht aus, wie Leute mit ihren Kindern umgehen“

Verliert man angesichts solcher Fälle den Glauben an das Gute?

Wir haben heute auch noch hunderte von Kindestötungen im Bundesgebiet. Das ist die gesellschaftliche Realität. Wenn Sie wie ich, mit einer eher bürgerlichen Geschichte, mit solchen Sachen in Berührung kommen, das geht Ihnen schon richtig an die Nieren. Auch meine Mitarbeiterinnen haben mir zum Teil gesagt: Wir können das nicht mehr, wir halten es nicht aus, wie Leute mit ihren Kindern umgehen.

Fällt es Ihnen leicht, nun Ihre Verantwortung abzugeben?

Da schwingt vieles mit. Es war eine bewusste Entscheidung, mit 63 zu gehen, die ich schon vor fünf Jahren getroffen habe. Ich könnte ja noch weitermachen. Natürlich bin ich auch wehmütig. Es hat viele Sachen gegeben, die unheimlich Spaß gemacht haben. Aber eben auch hoch Belastendes, wo man sagen muss: Diese Dinge legt man nicht ab, die nimmt man mit nach Hause. Das ist jetzt auch befreiend, anders in die Welt zu gehen.

Wie sieht Ihr erster Tag im Ruhestand aus?

Das wird ja kein Ruhestand. Ich mache erstmal Urlaub und das neue Leben fängt am 1. Januar an. Die Ehrenamtsagentur habe ich mir auf die Agenda gesetzt, im Verein für Ombudschaften NRW werde ich ehrenamtlich noch was machen. Und ich werde weiter Stadtführungen in Bochum anbieten. Damit habe ich mal für die Mitarbeiter des Jugendamtes begonnen, weil einige nicht viel wissen über die soziale Geschichte der Stadt, in der sie arbeiten. Ansonsten freue ich mich auf die Dinge, die einfach Spaß machen, zum Beispiel mein Garten.