Essen. Sie sind aus allen sozialen Bezügen gefallen und leben auf der Straße. Nun geht das Jobcenter Essen auf die jungen Menschen zu, bietet Hilfe an.

Der Anfang war schwierig: Sie sollten sich um junge Menschen kümmern, die sie nicht kannten, die sie aufspüren mussten in Tiefgaragen oder Parkanlagen und die dann auf die Frage „Kann ich Dir helfen?“ oft mit „Hau ab!“ antworteten. Ein Jahr später schreiben einige der jungen Leute Notizen wie die: „Ihr seid großardig!“ Das Kompliment in eigenwilliger Rechtschreibung geht ans Team von Rückenwind.

Das besteht aus drei Sozialarbeitern und einem Psychologen und wendet sich an Menschen, die unter 25 sind und schon jede Menge Schicksal mit sich herumschleppen: In der Familie erlebten sie Lieblosigkeit, Gewalt, Missbrauch, machten lieber die Straße zum Zuhause. Sie nehmen Drogen, haben keinen Job, keine Wohnung, keinen Schulabschluss. Dass sie deswegen keine Zukunft haben sollen, nimmt Rückenwind nicht hin.

Sie halten keine Vorträge, sondern bieten Kakao an

Die Mitarbeiter sind mit zwei Beratungs-Bussen unterwegs, fahren verborgene Schlafplätze an, Lager aus Decken und Plastiktüten. Wer so campiert, hat das Vertrauen in institutionelle Hilfe lang verloren, wehrt gut gemeinte Angebote ab. Sozialarbeiter Nick Motzkus bleibt dran, hält keine Vorträge über Perspektiven, sondern fragt: „Möchtest Du einen Kaffee?“ Er weiß inzwischen, dass Kakao noch besser ankommt: „Wegen des Zuckers.“

Sozialarbeiter Nick Motzkus in einem der Beratungs-Busse von Rückenwind. In der Bordküche bereitet er für junge Menschen, die auf der Straße leben, oft Kakao zu.
Sozialarbeiter Nick Motzkus in einem der Beratungs-Busse von Rückenwind. In der Bordküche bereitet er für junge Menschen, die auf der Straße leben, oft Kakao zu. © Socrates Tassos

Vom ersten Kakao bis zu einem Erfolg im amtsüblichen Sinn kann es drei Wochen dauern oder sechs Monate. Motzkus und seine Kollegen sehen, wie Vertrauen wächst – durch Suppe, Socken, Zuspruch. „Wir bieten etwas an, ohne die üblichen Vorbedingungen wie: ,Komm pünktlich’“, sagt Marion Stock von der Boje, die mit dem CJD Zehnthof das Rückenwind-Team stellt. Sie begleiten die jungen Leute, die oft Hepatitis und HIV haben oder wegen der mangelnden Hygiene unter schwer heilenden Wunden leiden, ins Krankenhaus. Oder zur Polizei, wenn es Ärger gab.

Auf Dankbarkeit können auch Beschimpfungen folgen

Sie sind so bedingungslos da wie die Eltern, die ihre Schützlinge nie gehabt haben. Auch wenn die erste Dankbarkeit in üble Beschimpfungen umschlagen kann, wenn die Jugendlichen unter Druck oder Drogen stehen. Das könne heftig sein, sagt Nick Motzkus, „und am nächsten Tag bin ich wieder da“. Rückenwind ist sieben Tage die Woche 24 Stunden per Handy erreichbar. Jeder im Team, dem drei Männer und eine Frau angehören, hat eine Woche Bereitschaftsdienst im Monat. Sie haben auch eine Anlaufstelle am Viehofer Platz mit Küche, Bad, Waschmaschine, aber 70 Prozent der Zeit sind sie unterwegs.

Erstes Ziel ist, die jungen Leute mit Meldeadresse und Konto auszustatten, damit sie ans Jobcenter andocken und Sozialleistungen erhalten können. „Die sind so entkoppelt, dass sie von sich aus nie zu uns kommen“, sagt Marina Helmich vom Jobcenter. Erst ein neuer Paragraf im Sozialgesetzbuch machte möglich, auf sie zuzugehen, 2017 Rückenwind zu starten.

Für manche wird der Sozialarbeiter zum Ersatzpapa

Seither hat das Team gut 200 Personen angesprochen, 20 begleitet es nun. Bei Behördengang, Drogenentzug, Arztbesuch oder Wohnungssuche; 76 solcher Aktionen hat es schon gegeben. „Wir bauen dabei keine Parallelstrukturen auf, sondern vermitteln die jungen Leute auch an andere Stellen weiter“, betont Martina Witzig vom CJD Zehnthof. Das reiche vom Arztmobil über die Bahnhofsmission bis zu Suchthilfe und Notschlafstelle Raum 58. Die Ersten sind neuerdings Kunden des Jobcenters, einige leben in betreuten Wohnungen: Nach dem Überleben lernen sie nun leben, planen, hoffen.

Schon kommen Vertreter anderer Städte nach Essen, sehen sich das Projekt an, das zunächst zwei Jahre läuft. Schon sagt Jobcenter-Leiter Dietmar Gutschmidt: „Geht es nach uns, wird das ein Regelangebot.“ Leicht ist die Aufgabe noch immer nicht, doch jetzt hat die anonyme Zielgruppe Namen bekommen. Jetzt fühlt sich Nick Motzkus manchmal wie ein Ersatzpapa und Jugendliche, die ihn wegschicken wollten, sagen nun per WhatsApp: „Danke fürs Zuhören!“

>>> ANGEBOT FÜR JUNGE MENSCHEN UNTER 25

Das Projekt Rückenwind betreut junge Menschen unter 25, die schwere Probleme haben wie Obdachlosigkeit, Drogensucht, zerrüttete Familien. Sie gelten als „entkoppelt“, erhalten keine Sozialleistungen. Das Rückenwind-Team begleitet sie ins Sozialsystem, ermutigt sie langfristig zu Schulbesuch/Ausbildung.

Träger von Rückenwind sind Boje und CJD Zehnthof im Auftrag von Jobcenter und Jugendamt. Ermöglicht wird diese Kooperation durch Paragraf 16 h, der erst 2016 ins Sozialgesetzbuch II (SGB II) kam: Mit ihm hat der Gesetzgeber Zielgruppen und Ziele der Jugendsozialarbeit in das SGB II geholt.