Bottrop. . Der Prozessionsspinner verbreitet sich rasant. Die Raupenplage hält die Städte in Atem, Schulen und Kitas müssen zwischenzeitlich schließen.
Der Baumpfleger als solcher ist gerade unsichtbar. Verpackt im weißen Ganzkörperanzug, mit Schutzbrille, Mundschutz, Überziehern für die Füße, Handschuhen, und alles noch verklebt mit Panzerband. So steht Marvin Bühner da, starker Mann vor deutscher Eiche, und fürchtet sich – vor einer Raupe. „Mir juckt jetzt schon alles.“ Trotzdem zieht Bühner entschlossen in den Kampf, mit einem Staubsaugerrohr gegen den Eichenprozessionsspinner.
Der Feind hat sein Nest gebaut an wirklich jedem Straßenbaum in Bottrop-Kirchhellen, alles Eichen! Er spinnt und prozessiert, wie der Name schon sagt, in Zweierreihen, dass den Bäumen Beulen wachsen, am Stamm und in den Ästen, es ist ein Gewusel, nur leider eine haarige Angelegenheit. Die Raupe einer nachtaktiven Motte ist über und über mit Haaren bedeckt, die für Mensch und Tier gefährlich sind: Sie enthalten Nesselgift, das Eiweiß zerstört. Im besten Fall gibt das Pusteln wie nach einem Sturz ins Brennnessel-Feld, im schweren Fall Asthma und Atemnot, im schlechtesten erlitten Schädlingsbekämpfer allergische Schocks.
Weil der Eichenprozessionsspinner nach warmem Frühjahr in Massen über das Ruhrgebiet herfällt, liegt die Kriegsrhetorik nah. „Der Feind“, sagt Bottrops Stadtsprecher Ulrich Schulze, „ist mit seinen Truppen so massiv vorgedrungen, dass die Front überdehnt ist.“ Heißt, die Städte haben Mühe, die Bäume abzuarbeiten, überhaupt noch Fachleute zu finden. „Wir kommen nicht mehr hinterher“, klagt Schulze in Bottrop. Gleiches gilt für Essen, für Duisburg, wo es Wartelisten gibt, für Oberhausen, wo die Firmen „ausgelastet“ sind, für Herne, das das letzte aller Sauggeräte auftrieb und sich Schutzmasken bei der Feuerwehr lieh. „Viele Bürger sind sehr unzufrieden“, heißt es in Essen von „Grün und Gruga“. „Sie erwarten, dass Nester, die sie uns gemeldet haben, am nächsten Tag weg sind.“
Aber die Städte schreiben Prioritätenlisten: Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser zuerst. Velbert war eine der ersten Kommunen, die eine Grundschule für die Kammerjäger schließen musste. Es folgten Schulen in Heiligenhaus, in Voerde, in Hamminkeln . . . Gelsenkirchen meldet acht Schulen und neun Kindertagesstätten, die befallen sind. Bedeutet für die Kinder: Fenster zu, draußen Spielen verboten. In Duisburg ist ein Stadion dicht, Hamm schloss ein Freibad und Dortmund Teile des Fredenbaumparks. Gladbeck hängte Flatterband an seine Eichen: „Vorsicht! Gesundheitsgefahr durch Eichenprozessionsspinner!“
Die „Gartenzwerge“ in Duisburg haben Ausgangssperre, die Stadt kann der privaten Kita nicht helfen, eine Fachfirma aber auch nicht. „Alle restlos ausgebucht“, sagt eine Mutter, „manche nehmen erst gar keine Aufträge mehr an.“ Für die Kinder sei das „eine Katastrophe“. Für die älteren, die in Bottrop über den Radweg zur Schule wollen, auch. Ein Anlieger versuchte die Nester wegzuflämmen, nachdem seine Kinder mit Ausschlag heimkamen, das aber schadet dem Baum – und die Raupenhaare flogen erst recht.
Anwohner Markus Kaufmann ergriff nach dem soundsovielsten Anruf bei der Stadt („Die kann nicht mehr“) selbst die Initiative: Der Forstwirt legte sich einen Spezialsauger zu. „Ich werde nicht kampflos die Hände in den Schoß legen.“ Knapp 1000 Euro kostet das 30 Kilo schwere Gerät, jede Filtertüte 25, die Maschine entfernt sonst Asbest. Damit und mit seinem Schutzanzug steht Marvin Bühner nun vor Eiche eins, man sieht nur noch wenig Haut von ihm und vom Baum nur mehr Raupen.
Die nicht mehr krabbeln, haben sich schon verpuppt, aber das löst nicht das Problem. Von einer „tickenden Zeitbombe“ spricht Kaufmann, der Spinner ist weg, aber seine Haare bleiben. Können mit den Nestern herab fliegen, Hunden ins Fell, Pferden in die Nüstern, Kindern in den Mund.
Die geschlüpften Motten legen schon wieder neue Eier
Bühner geht mit dem Hubsteiger nach oben, spritzt die Raupen nass, setzt den Sauger an. In dicken Schlieren zerrt der das Nest in sein Inneres, einen Baum weiter liegt ein meterhohes Exemplar voll leerer Hüllen schon im Randgrün. Abgestürzt. Davor haben die Leute Angst: Die bereits geschlüpften Motten legen neue Eier, und nächstes Jahr werden sie noch mehr. „Wir müssen“, mahnt Markus Kaufmann, „uns besser vorbereiten.“
Sein Baumpfleger schält sich später erleichtert aus seinem Schutzanzug. Keine Pusteln, keine Atemnot. Was vom Einsatz übrig bleibt, wird verbrannt.