Bochum. Eine Bochumer Kita besucht regelmäßig demenzkranke Senioren. „Babybeobachtung“ wurde eigentlich für Arbeit mit Kindern entwickelt.
Ilias ist da, endlich, sie haben doch schon gewartet. Mit der Entschlossenheit des Weltentdeckers krabbelt das Baby auf zwei Decken auf dem Boden des Aufenthaltsraums herum, eine Erzieherin sitzt schräg hinter ihm; den beiden gegenüber bilden sieben betagte, mehr oder weniger demenzkranke Frauen und Männer einen halben Stuhlkreis. „Da sehen wir uns wieder“, sagt eine der Frauen zum Kind; die, die sonst nie etwas sagt.
Gemeinsam singen sie ein Begrüßungslied, also, die Betreuer mehr als die Senioren: „Guten Morgen, liebe Sonne!“ – und das passt schon ein bisschen dazu, was in den dementen Menschen in der nächsten halben Stunde vorgehen wird. Sagen wir: Baby gucken macht glücklich. Und deshalb geht Ilias in die Kita und ins Seniorenheim zugleich.
Das Zusammenleben von Generationen
Alle 14 Tage schiebt die Erzieherin Mireille Barra nämlich den Kinderwagen mit dem kleinen Jungen aus der Kita ,Lütjeland’ in Bochum-Gerthe in das Seniorenheim ,Gloria’, direkt nebenan. Die beiden privaten Häuser arbeiten gemeinsam daran, dass junge und alte Menschen mehr zusammenkommen.
„Ich bin eine große Befürworterin davon, dass die Generationen zusammenleben. Das ist eine Qualität, die verlorengegangen ist“, sagt Barra.
Ilias liegt im Trend
Doch am handfesten Anfang der Kooperation steht Ilias. Mit seinen zehn Monaten kann er das nicht ahnen, aber er, nun gut, liegt im Trend: Das Angebot, fremden Babys zuzugucken bei ihrem Babysein, breitet sich langsam aus in der Arbeit mit dementen Menschen.
Es sei „noch ganz in den Anfängen, aber das Interesse steigt“, sagt der Münchner Bindungsforscher Professor Karl Heinz Brisch, der die Babybeobachtung eigentlich für die Arbeit mit Kita- und Grundschulkindern entwickelt hat.
„Er kennt uns schon jetzt“
Warum sie nun Einzug hält in die Demenzarbeit, erfasst man sogleich, wenn man einfach die 30 Minuten zuschaut im Aufenthaltsraum. Ilias krabbelt, richtet sich auf und steht: Beifall für Ilias von denen, die es überhaupt wahrnehmen.
Er lacht, lässt sich immer wieder ebenso vertrauensvoll wie rückwärts in die Arme der Erzieherin fallen, er stößt sich die Nase, schreit, lacht dann wieder. Und im Stuhlkreis?
Färbt seine Lebendigkeit ab: Der teilnahmslose Mann richtet sich auf im Rollstuhl. Die Frau, die ununterbrochen singt „Aber eins, aber eins, das bleibt bestehen“, nur diese eine Zeile immer wieder, die winkt nun dem Kind. Und manche sagen Sätze. „Was der Kleine von uns wohl denkt?“ „Er guckt aber auch.“ „Er kennt uns schon jetzt.“ „Er sieht mich, er sieht mich.“
„Anknüpfen an Erfahrungen mit eigenen Kindern“
Der Grund fürs Babygucken ist: das Leben, das zurückkehrt in die Menschen. Professor Brisch zählt es jetzt mal für uns auf: „Positive emotionale Veränderungen, mehr Orientierung, mehr Sprache, Anknüpfen an Erfahrungen aus der Zeit mit eigenen Kindern.“
Angefangen hat es 2016 in einem Heim in Osnabrück. Die Erfahrungen waren positiv, heißt es dort heute, allerdings fehlt gerade ein Baby: „Wir sind aber dabei, dass wir wieder eine Gruppe bilden.“
„Nicht anfassen, nicht herumreichen“
Durch die Säuglinge werde das Erinnerungsvermögen der Menschen gestärkt. „Die Leute wissen nicht, wo der Frühstücksraum ist, aber sie wissen, dass das Baby kommt“, sagt ein Angehöriger.
Damit das klar ist: Ilias kann man zusehen, berühren kann man ihn nicht. „Nicht anfassen, nicht herumreichen, nicht auf den Schoß nehmen“, sagt Simone Hammerschmidt, die Gründerin der Kita. Das Kind tritt zwar nach mehreren Besuchen inzwischen auf wie eine, Verzeihung, routinierte Rampensau, macht aber auch keine Anstalten, seine Decken zu verlassen; die Alten locken es freilich auch nicht.
Lebenslust auf Lauflern-Beinchen
Sie winken mal. Oder sagen solche Sätze: „Ja du kleiner Lümmel.“ Und manchmal lächeln sie angesichts des kleinen Kindes. Solche Lebenslust auf Lauflern-Beinchen. Padauz!
„Ein Lächeln, das ist ein Stück Lebensqualität“, sagt die Betreuungsassistentin Ingeborg Dolle aus dem ,Gloria’. Der Besuch endet mit dem bekanntesten aller kindlichen Abschiedslieder: „Alle Leut’, alle Leut’/gehn jetzt nach Haus.“ „Wiedersehen“, sagen sie zu Ilias, und: „Besuchst du uns bald wieder?“ Sie warten nämlich schon.