Solingen. . Mevlüde Genç, die am 29. Mai 1993 zwei Töchter, zwei Enkel und eine Nichte verlor, kämpft für Versöhnung. Heute Gedenkstunde in Düsseldorf.
Sie hört sie immer noch, 25 Jahre danach: „Die Schreie meiner Kinder“, sagt Mevlüde Genç, „die in den Flammen verbrannten.“ Nachts, wenn sie nicht schlafen kann. Tags, wenn ihr nichts gefallen will. „Ich bin zwar auf der Erde, aber es fühlt sich nicht so an, als ob ich wirklich leben würde.“ Ein Vierteljahrhundert nach der Brandnacht von Solingen, in der Hatice, Gülüstan, Hülya, Saime und Gürsün starben – Töchter, Enkel und Nichte – kämpft Mevlüde Genç nicht mehr gegen den Schmerz, sie „kann ihn nicht mehr tragen“. Aber sie kämpft für Frieden und Versöhnung, immer noch – und immer wieder neu.
Acht Menschen wurden verletzt
Heute Abend wird Mevlüde Genç wieder zur Unteren Wernerstraße gehen, zusammen mit ihrem Mann Durmuç. Dorthin, wo bis zum Pfingstsamstag 1993 das Haus der Familie stand, 19 Menschen wohnten darin. Doch dann flogen die Brandsätze; das Feuer kroch von einer hölzernen Truhe im Flur hinauf bis zum Dach. Die Mädchen erstickten, verbrannten: Hatice (18), Hülya (9), Saime Genç (4) und Gülüstan Öztürk (12). Gürsün İnce (27) sprang aus dem Fenster in den Tod. Acht weitere Familienmitglieder
wurden schwer verletzt, der damals 15-jährige Bekir wurde bis heute 30-mal operiert.
Ein fremdenfeindlicher Anschlag, der schlimmste in einer traurigen Reihe zu Beginn der 90er-Jahre: Hoyerswerda, Rostock, Mölln. Und Solingen. Vier rechtsextreme junge Männer zwischen 16 und 23 Jahren wurden nach langem Indizien-Prozess verurteilt, sind schon seit 2005 wieder frei. Was sie trieb, wurde nie wirklich geklärt, „Rabatz machen“ wollte ein Nachbarsjunge. Die vier brachten zwei junge Frauen und drei kleine Mädchen um. Die jüngste Verletzte war noch ein Baby.
Mevlüde Genç hätte hassen können, aber sie redete von Liebe. „Wir müssen in Frieden miteinander leben, wie Geschwister!“ Sie hat diesen Satz gleich nach dem Anschlag gesagt, ihn wohl tausendfach wiederholt, sie sagt ihn auch in diesen Tagen wieder in alle Mikrofone, die ihr zum Jahrestag vorgehalten werden. Die Frau, die mit 27 Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen war, damit es ihren Kindern besser gehen sollte, „aber leider erfüllte sich die Hoffnung nicht“, diese Frau fordert „Versöhnung, Menschenfreundlichkeit und ein friedliches Miteinander, damit solche Taten nicht noch einmal verübt werden“.
Man hat sie gelobt für diese Worte und angefeindet, weil sie sie immer noch auf Türkisch sagt, nach bald 46 Jahren in Solingen. Mevlüde Genç aber fühlt sich verwurzelt in Deutschland, sie ist deutsche Staatsbürgerin, sie will „bleiben, bis ich sterbe“. Solingen „liebe ich wie meine Heimat“. Trotz des Anschlags, weil sie weiß, es waren vier Täter, nicht „die Deutschen“. Trotzdem freut sie sich, dass auch der türkische Außenminister auf der Gedenkfeier redet, sie ist jedem dankbar, der bei ihr ist an diesem Tag, der ihren Schmerz teilt. „Das hat mit Politik ausdrücklich nichts zu tun“, sagt die 75-Jährige.
Der Minister wird nicht zur Unteren Wernerstraße kommen. Dorthin, wo bis heute ein Loch klafft, wo ein paar verwitterte Ziegelsteine und fünf Kastanien an das Haus erinnern, das hier einst stand, und die Menschen darin. Die Gäste kommen zum Mahnmal, das weit weg steht an Hatices Schule, eine private Skulptur. „Wir wollen nicht vergessen. Wir wollen nicht wegsehen. Wir wollen nicht schweigen“, steht davor. Zwei Stahlfiguren zerreißen ein Hakenkreuz, um sie herum wächst eine Mauer aus Ringen. An die 7000 sind es inzwischen, geschmiedet von Schülern der Jugendhilfe-Werkstatt, jeder trägt den Namen eines Bürgers, einer Familie.
Die Minister zusammengeschweißt
Vergangene Woche haben die Jugendlichen zwei neue Ringe gemacht: für den deutschen und den türkischen Außenminister. Es gab viele, die vor dem Gedenktag noch rasch einen Ring kaufen wollten, diese beiden hat die Werkstatt geschafft. Aykut (16), Izel (18) und Sevda (17) schweißten die beiden Außenminister kurzerhand zusammen. „Wir wünschen uns“, schrieben sie an Heiko Maas und Mevlüt Cavusoglu, „dass alle Menschen in Deutschland und in der Türkei im stillen Gedenken an die Opfer des Brandanschlages friedlich und dicht beieinander stehen. So dicht wie hier die Ringe der beiden Vertreter aus beiden Ländern. . .“
Sie brachten die Ringe unten an, nicht oben, wo die Mauer eigentlich wachsen sollte, bis sie das Hakenkreuz verdeckt. Weil sie damals dachten, dass mit dem Nazi-Symbol auch der Rechtsextremismus über die Jahre verschwinden würde. Kürzlich aber hat die Werkstatt beschlossen, dass das Hakenkreuz bleibt. „Das Mahnmal ist leider aktueller denn je“, sagt der Leiter Winfried Borowski. „Wir haben in Deutschland eine durchaus vergleichbare Situation wie 1993. Es gibt wieder brennende Asylheime. Ausgerechnet zum 25. Jahrestag.“ (mit epd)
Bundespräsident: Erinnerung darf nicht verblassen
Zum 25. Jahrestag des Anschlags hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dazu aufgerufen, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus entschieden zu bekämpfen. Steinmeier traf bereits am Freitag Mevlüde Genç, die am 29. Mai 1993 zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verlor. Am Montag teilte Steinmeier mit: „Die Erinnerung an diese grausame Tat darf nicht verblassen.“
Auch Außenminister Heiko Maas (SPD) forderte mehr Engagement gegen Rassismus. „Es ist beschämend, dass auch heute noch viele, die selbst oder deren Eltern und Großeltern aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, Diskriminierungen im Alltag erfahren“, sagte Maas dieser Redaktion. Türkische Zuwanderer seien in Deutschland nicht nur willkommen, sondern „ein Teil unseres Landes“.
Die schreckliche Tat bleibe „ein Angriff auf uns alle, auf unsere Werte und unser friedliches Zusammenleben“, sagte Maas. Er nimmt heute gemeinsam mit Kanzlerin Angela Merkel und dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu an der offiziellen Gedenkstunde in Düsseldorf teil. (gau/dpa)