Moers. Sie wollen singen, und jetzt das. Gerade erst haben die rund 30 Männer sich im Gemeindesaal zur Probe hingesetzt, da steht Adolf Baldin schon wieder auf und geht nach vorn. „Mich hat gerade die Nachricht erreicht, dass unser Freund Gerd* im Alter von 81 Jahren am 28. Januar verstorben ist. Wir bitten, seiner zu gedenken“, sagt Baldin – und nach kurzem Schweigen aller: „Günter* ist ins Krankenhaus gekommen. Es steht wohl nicht gut.“ Die Runde schweigt, die ganze Chorgemeinschaft. Wieder zwei.
Sie wollen singen, und jetzt das. Gerade erst haben die rund 30 Männer sich im Gemeindesaal zur Probe hingesetzt, da steht Adolf Baldin schon wieder auf und geht nach vorn. „Mich hat gerade die Nachricht erreicht, dass unser Freund Gerd* im Alter von 81 Jahren am 28. Januar verstorben ist. Wir bitten, seiner zu gedenken“, sagt Baldin – und nach kurzem Schweigen aller: „Günter* ist ins Krankenhaus gekommen. Es steht wohl nicht gut.“ Die Runde schweigt, die ganze Chorgemeinschaft. Wieder zwei.
Es ist Mitte dieser Woche eine ihrer letzten Proben. 2014, das Ende vor Augen, hatte sich der ausgezehrte „MGV Liederkranz Repelen 1864“ aus Moers noch in eine Chorgemeinschaft geflüchtet mit der ebenso ausgezehrten „Constantia Baerl 1885“ aus Duisburg. Und schon davor hatten sie „zehn Jahre orakelt, wie lange das noch gut geht“, erinnert sich Archivar Heinz-Jürgen Dietze (80). Nun, jetzt geht es nicht mehr: Am morgigen Sonntag gibt die Chorgemeinschaft das erste von drei Abschiedskonzerten. In der Dorfkirche, „An der Linde“. Bald sind beide Chöre Geschichte, darunter der älteste von Moers – nach 154 Jahren.
Die Lust am Singen ist wieder groß – nur nicht im MGV
Das Elend der Männergesangvereine (MGV) ist oft beschrieben worden, es setzt sich zusammen aus Nachwuchs, der fehlt, aus dem Alter der Sänger und den Stimmen, die brüchig werden. Doch inzwischen steht die ganze Gattung in Frage. Denn die neu erwachte Lust am Singen spart sie einfach aus: Jeder vierte zwischen 12 und 19 Jahren singt im Chor oder spielt ein Instrument, aber nie im MGV. Nie.
„Singen kommt wieder an in der Mitte der Gesellschaft“, sagt Nicole Eisinger vom „Deutschen Chorverband“ und beschreibt neue Formen: wie das Stadionsingen in Berlin, Leipzig, Dortmund oder Gelsenkirchen, wo Zehntausende spontan zusammenkommen; oder wie jene Projektchöre, in denen sich Menschen für ein einziges Werk zusammenfinden und dann wieder auseinander gehen. Das ist ganz das Gegenteil vom MGV, wo der Liederkranz-Vorsitzende Gerhard Friesen (81) sagt: „Ich bin 62 Jahre im Verein.“
Johannes Pasch hat das alles schon einmal mitgemacht: „Vor einem Jahr haben wir schon den Werks-Chor Niederberg aufgelöst, im zweiten Bass saß nur noch einer, das klingt dann auch nicht mehr“, sagt der 79-Jährige. Die Noten hätten niemanden interessiert, „wir haben sie mit zwei Autos zum Verbrennen gebracht“. Immerhin: Man trifft sich noch alle vier Wochen, singt ein, zwei Lieder und erzählt. Von früher.
Ähnlich wird es dem Liederkranz ergehen: Niemand will den Flügel, und das kleine Museum im Dorf hat das Vereinsarchiv abgelehnt. Die Noten und Mitgliederverzeichnisse, die Reiseberichte und Zeitungsausschnitte. Vielleicht, dass es wenigstens gelingt, die Fahne von 1864 und die Chroniken von 1953, 1974 und 1989 ins Stadtarchiv zu retten? „Gerhard, kannst du dich kümmern?“
Darin sind auch Fotos aus einer anderen Zeit: 1964 waren sie fast 100 Stimmen, es gab ein Jubiläumskonzert, einen Festabend, einen Festumzug und einen Besuch des NRW-Kultusministers. Heute sind sie noch dreizehn Sänger – und wenn 100 Besucher kommen sollten und der Dorfbürgermeister, dann ist es gut.
Sie singen alte Lieder:„Zu Rüdesheim in der Drosselgass“
Für die Gäste von morgen singen sie jetzt, die Probe läuft. Sang- und klangvoll, doch es sind Lieder aus der Vergangenheit. „Musik, du heilige Kunst.“ „Droben im Oberland.“ „Zu Rüdesheim in der Drosselgass.“ Lieder singen sie vom Trinken, vom Jagen und, um das Äußerste zu singen, von einer Frau, die sie nach Hause brachten. Die letzte Strophe nochmal im Stehen. Manche bleiben besser sitzen.
Am Rande erzählt Richard Dosoudil, der Kassierer, wie es ist, die alten, passiven Mitglieder abzufahren, 70 bis 80 Menschen noch – viele lange Abende sind das für Dosoudil (77) und Kollegen. Einer fährt, einer trinkt die Schnäpse mit. Auf die alte Zeit! „Die wollen, dass jemand kommt, die wollen ja reden“, sagt er. Manchmal sei es ihm peinlich, einen 90-Jährigen abzukassieren, „aber wegbleiben können Sie doch auch nicht“. Nach dem letzten Konzert wird der Verein liquidiert. Das heißt so. Da löst sich mehr auf als ein Sängerbund.
*Namen geändert