Düsseldorf. Die erste Zeugin im Prozess schildert ihre Not im Gedränge. Sie hört noch immer ein Mädchen um Hilfe flehen, doch auf ihr lagen Menschen.

Rosalinda B. aus Duisburg ist die erste Zeugin. Die erste auf dem Stuhl ganz vorn in diesem Saal mit 500 Plätzen. Die erste, die im Prozess um die Loveparade erzählt, was am 24. Juli 2010 geschah. Mit ihr bekommen 652 Verletzte, mehr als 60 Nebenkläger ein Gesicht. Ein verzweifeltes, verweintes, ängstliches Gesicht.

Rosalinda (31) hat sich gefürchtet vor diesem Tag. Sie hat Menschen mitgebracht, ohne die sie das nicht schaffen würde: noch einmal die drangvolle Enge, die Atemnot, die Todesangst durchleben zu müssen.

Denn das wird deutlich, als die Zeugin anfängt zu sprechen, mühsam, stockend, oft unfähig, Worte zu finden: Rosalinda sieht, was sie erzählt. Sie hat ihr Kino im Kopf, nur leider ist es ein Horrorfilm.

„Wir waren wie Sardinenin der Büchse“

Er handelt von Tausenden an der Rampe, die nicht weiterkommen, die drücken und schieben, dass es sich anfühlt wie Wellen, und von einer 1,58 Meter kleinen Frau, auf deren Kopfhöhe nur Körper sind, Rucksäcke, aber keine Luft.

„Wir waren wie Sardinen in der Büchse“, sagt Rosalinda. Immer wieder macht sie Pausen, greift sich an die Kehle, zerknetet eine Packung Taschentücher zur Unkenntlichkeit, zerrt Hunderte Male ihren Ring von der Hand. Und bringt dann stoßweise heraus: „Es war so … warm.“ Wie sie es sagt, ist ihre innere Hitze im Saal zu spüren.

„Es ging keinen Schritt vor und keinen zurück.“

„Es wurde immer voller, wir kamen nicht voran!“ Manche Sätze wiederholt sie. „Es ging keinen Schritt vor und keinen zurück.“ Rosalinda hat kein Zeitgefühl, „es war wie eine Ewigkeit“. Verzweifelt hielt sie die Hand ihrer Schwester, „bloß nicht loslassen!“, hatte die gesagt, aber dann verloren sie sich doch. „Ich habe gerufen und gesucht.“ Giusi sitzt hinter ihr im Saal, Rosalinda braucht sie, aber auch die Ältere kämpft: Eine Betreuerin legt ihr beruhigend den Arm um die Schulter.

„Irgendwann habe ich nach Luft geschnappt. ,Ich kann nicht atmen’, habe ich gerufen. Meine Brust wurde eingedrückt.“ Wieder fahren beide Hände zum Hals. Rosalindas Stimme wird heiser, die Beklemmungen, wird sie später sagen, kommen immer wieder, auch heute noch. Im Krankenhaus, steht im Arztbericht, musste sie zwei Tage lang beatmet werden.

„Ich wurde immer schwerer und schwerer.“

Die Zeugin selbst weiß das nicht, auch nicht, wie lange sie in der Klinik war und wie oft; sie hat die Berichte nie gelesen, sie wollte Abstand. Nur ist die „Last“ geblieben, die Last der Menschen, die auf sie fielen, auf sie traten, als sie gestolpert war: Sie wurde „immer schwerer und schwerer“.

Hilflos lag sie auf der untersten Stufe jener Treppe, über die sie hatte fliehen wollen. Und die Last der Schuld: „Da lag ein junges Mädchen neben mir“, erinnert sich Rosalinda, es bat um Hilfe, „aber ich konnte nicht helfen, ich konnte mich nicht bewegen. Ich weiß nicht, ob das Mädchen noch lebt. Ich fühle mich schuldig.“

„Dann habe ich keine Erinnerung mehr.“

Es ist das letzte, woran sich die Zeugin erinnert: dieses Mädchen neben ihr auf der Treppe. „Dann habe ich keine Erinnerung mehr.“ Sie wurde wach auf der Intensivstation. Mit Schmerzen überall, mit massiven Prellungen am Oberkörper, mit einer Gehirnerschütterung. Danach hat es ein Jahr gedauert, bis sie psychologische Hilfe suchte. Und ein Jahr, „bis ich realisiert habe, dass ich noch am Leben bin. Und warum“.

Derzeit macht Rosalinda eine Ausbildung. Die gelernte Friseurin will Krankenschwester werden. Und endlich helfen können.

>>>Ein Zeuge liefert die „Bilder einer Katastrophe“

Erstmals kommt am Donnerstag das ganze Drama in den Gerichtssaal: mit Filmaufnahmen eines Zeugen, der damals Student in Heidelberg war und in Duisburg feiern wollte.

Der 34-Jährige nennt sie „Bilder einer Katastrophe“: 40 Minuten, die den Saal zum Schweigen bringen und eine Schöffin zum Weinen. So viele hilflos gereckte Arme, gequetschte Gesichter voller Panik, Bewusstlose, die über die Treppe gezogen werden, auf Leinwänden vielfach vergrößert, und dann: Schreie, Schreie, Schreie.

Der Zeuge gibt sich so nüchtern wie seine Bilder grausam sind, spricht ruhig über die Filmchen, die er drehte als Tagebuch und später, weil er ahnte, „dass wir hier Beweismittel brauchen“.

Und weil er mit 1,90 Metern groß genug war, den Kopf oben zu behalten. Stark genug, um Menschen wiederzubeleben, war er nicht: Er versuchte es bei zweien mit Mund-zu-Mund-Beatmung. „Es war“, sagt der angehende Lehrer, „leider zu spät.“