Xanten. . Hier werden die Glocken noch von Hand in Bewegung gebracht. „Anna“, „Helena“ und „Großer Viktor“. Ein Besuch bei der „Läuter-Kompanie“

Xanten schläft noch halb, da eilt Küster Bruno Müller bereits durch das Kirchenschiff von Sankt Viktor. „Ich mach’ mal eben den Dom auf“, sagt er und geht mit den Schlüsseln von Tür zu Tür.

Am Haupteingang, am Südportal, wird Müller bereits erwartet; Paul Kaufmann tritt aus der Dämmerung ins Licht und äußert nach kurzer Begrüßung einen großen Wunsch: „Ich habe richtig Lust, ich möchte die Anna ziehen heute.“

Zusammen fast sechs Tonnen Gewicht

Bevor Sie jetzt weiß Gott was denken: Anna ist eine Glocke. Eine der drei großen mittelalterlichen Glocken im Xantener Dom, es gibt daneben noch die „Helena“ und den „Großen Viktor“. Die drei Biester wiegen zusammen fast sechs Tonnen und haben noch eine eigene „Läuter-Kompanie“, echte Menschen also, die sie läuten.

Die Kompanie ist, soweit man weiß, die einzige in Deutschland, die sich noch mit derart großen Glocken abrackert. Hier ist der Glockenschlag von Hand. Das Geläut unplugged.

„Wir sind im Grunde genommen Musiker“

15 überwiegend ältere Herrschaften. Müller, der Küster, gehört qua Amt dazu, alle anderen sind ehrenamtliche Rufer Gottes. Die Glöckner von Sankt Viktor. Buckel tragen sie natürlich nicht, anders als der weltbekannte Kollege Quasimodo von Notre Dame de Paris. Es zeigt sich aber auch keine schöne Esmeralda: keine einzige Frau.

280 Stufen höher hängen diese Seile am jeweiligen Glockenjoch.
280 Stufen höher hängen diese Seile am jeweiligen Glockenjoch. © Ralf Rottmann

„Wir sind im Grunde genommen Musiker“, sagt Kaufmann (72), der erläutern kann, dass der Klang handgeläuteter Glocken sich in Nuancen unterscheidet von elektrisch gesteuerten, wie sie heute üblich sind. Auch hier funktionieren sechs kleinere mit Strom. „Schön ist, dass wir die Leute rufen und sagen: Kommt zum Gebet. Es ist ein Dienst an den Gläubigen.“

Drei Seile hängen aus einem Loch in der Decke

Und so hängen linker Hand vom Südportal drei Seile aus einem Loch in der Decke, ein einfaches und zwei mit je drei Enden. Denn die Anna, auf die Paul Kaufmann heute früh richtig Lust hat, die lässt sich tatsächlich von einem allein läuten.

Doch bei Helena und dem großen Viktor müssen jeweils drei Männer in den Seilen hängen. „Zur Not geht es auch zu zweit“, sagt André Kress – aber dann ist das Anschwingen ein 2,5 Tonnen schweres Problem.

Und dann ist es Viertel nach Neun. Zeit, zum Gottesdienst zu rufen. Sieben Männer packen die Seile, gehen in die Knie, kommen wieder hoch. 280 Stufen höher beginnen die Glocken zu schwingen, dann ist auch schon der Ton da. Bum-Bam. Bum-Bam.

Ihr Schwungrad ist zu klein

Viktor, wissen sie hier unten, läuft, wenn er einmal läuft; Helena braucht mehr Kraft, weil ihr Schwungrad zu klein ist. Doch nach dem Anschwingen geht niemand mehr in die Knie, sie ziehen nur noch an den Seilen und geben wieder nach. Immer wieder. Das ist so mühelos, dass sie reden können. „Hast du heute keinen Dienst?“ – „Doch, um elf.“

„Trimm dich, läut’ mal wieder“, sagt Helmut Sommer (82), der schon 51 Jahre dabei ist. „Mein Vater hat hier die Orgel gespielt, mein Großvater hat hier die Orgel gespielt, da hängt man am Dom und nicht nur an den Seilen“, so der frühere Küster.

„Glocken 3 und 4 nie zusammen“

Bernhard Ahls auf dem Weg zum Dom. Allein sonntags muss die Kompanie drei Mal ran.
Bernhard Ahls auf dem Weg zum Dom. Allein sonntags muss die Kompanie drei Mal ran. © Ralf Rottmann

Und André Kress erinnert sich, dass er schon als Bub an Großmutters Hand herkam: „Als neunjähriges Kind hab’ ich beim Läuten zugeschaut.“ Zuschauen darf den Männern jeder, aber Show-Läuten würden sie niemals. Gottlob gibt es ausreichend kirchliche Anlässe: Messen und Vespern, Trauerfeiern oder Hochfeste.

Verschiedene Anlässe, verschiedenes Geläut, mal freudiger, mal getragen. Wer meint, man müsste nur einfach so am Seil ziehen, den belehrt die Läuteordnung an der Wand gnadenlos: „Die Glocken 3 (Barbara) und 4 (kl. Viktor) nie zusammen. Reihenfolge: von oben (hohe Zahl/hoher Ton) nach unten (Ausnahme: Hochfest – erst 6/5/3 –, dann: I/II/III/1/2).“ Und das ist nur ein schmaler Auszug.

Nachwuchssorgen kurz vor dem 100-jährigen Bestehen

1923 soll die Läuter-Kompanie entstanden sein, die Gründe sind nicht recht klar; vorher gab es wohl hauptamtliche Gehilfen des Küsters. Man munkelt auch, Läuten sei als Buße nach der Beichte verhängt worden. Jedenfalls gibt es die Gruppe jetzt 94 Jahre.

Zur ganzen Geschichte gehört aber auch, dass sie Nachwuchssorgen hat. Interessenten jedweden Geschlechts sind jederzeit willkommen. Glöckner hört sich blöd an? Dann werden Sie doch Strippenzieher Gottes.