Gelsenkirchen. . Waltraud und Bernhard Rudnik sind 65 Jahre verheiratet. Sie leben in einer Demenz- Wohngemeinschaft. Das Band zwischen ihnen vergessen sie nicht.
Was bleibt von der Liebe, wenn man vom Leben nichts mehr weiß? Wie sie seine Hand fasst, wie sie ruhig wird, wenn er sie streichelt, oder aufgeregt, wenn er eine andere Frau begrüßt: Waltraud Rudnik mag vergessen haben, dass sie mit Bernhard 65 Jahre verheiratet ist, dass es zur Eisernen Hochzeit Nuss-Sahnetorte gab und einen Strauß bunter Blumen – aber dass sie zu ihm gehört und er zu ihr, das kann sie ganz offensichtlich spüren.
„Wo sind die Jahre geblieben?“, fragt Bernhard Rudnik, und seine Frau weiß es am wenigsten. Nervös wippen ihre Beine im Gehwagen, hinter den Brillengläsern tanzen ihre Augen, wenn er erzählt aus ihrer Ehe. Manchmal guckt die 85-Jährige, als wolle sie widersprechen, einmal wiederholt sie froh ein Wort: „Kartoffeln!“ Dann hört es sich an, als würde sie singen, sie haben das früher zusammen getan, im Chor. Bernhard, 87, streicht ihr liebevoll über die Wange.
Waltraud wohnt jetzt fünf Jahre in einem Wohngemeinschaftshaus für Demenz-Erkrankte in Gelsenkirchen-Sutum. Vor zehn Monaten zog auch ihr Mann ein.
Es begann damit, dass sie weglief, die Tür war offen und Waltraud fort, Rudnik hatte „Angst: Wo ist die Frau geblieben?“ Anfangs hielt er es vor den Nachbarn geheim, später haben sie mit aufgepasst, aber dann ging es nicht mehr. „Ich habe sie“, sagt der 87-Jährige, „so lange gehalten, wie ich konnte.“
Langsam kommt man auch voran
Bernhard Rudnik ist ein freundlicher Mann, er wirkt bedächtig und sagt von sich selbst, er sei immer „langsam“ gewesen. Langsam im Vergleich zu seiner Waltraud, die meist rannte, die dauernd „in Bewegung war, aber langsam kommt man auch ans Ziel“. So ist es heute immer noch: sie die Schlanke, deren Beine immer unterwegs sind in der WG; er der Rundliche, der sie festhält, eine Hand auf ihrem Arm.
Zuhause hat er es „irgendwann nicht mehr geschafft“, seine Tochter merkte es zuerst. „Alles gut“, sagte der Papa am Telefon, aber sie glaubte ihm nicht, „die Tonlage“! Gemeinsam fanden sie das Haus „Leben in Sutum“, „und auf einmal war sie weg“. Sagt Bernhard Rudnik, der vieles lernen musste, das Alleinsein, das Kochen. Das war nicht leicht, aber die Verantwortung war es auch nicht gewesen: „Ich habe mit offenen Augen geschlafen, nur nach ihr geguckt.“ Nun fuhr Rudnik täglich vom Süden in den Norden der Stadt, seine Frau zu besuchen, um die sich nun andere kümmerten.
Waltraud Rudnik trägt ihre Haare immer noch lang, hinten zum Dutt oder an der Seite, Bernhard sieht es noch: „Wie schön sie war.“ 1951 sah er es zum ersten Mal, es war die Hochzeit seines Bruders: „Ein Traum fürs Leben“, sagt er und stockt kurz. „Frau fürs Leben“, „Traumfrau“, er hat beides gemeint. Da war sie, es kam „auf Schlag“, wie man als Bergmann sagt. Er nahm sie in den Arm, sie „zappelte wie ein Fisch“, da wusste er: „Die will ich.“ Dass sie aber zappelte, hatte einen Grund: „Du hast doch eine!“ Tatsächlich war Bernhard mit einem anderen Mädchen da.
Ein Jahr hat es gedauert, bis sie heirateten, in Wanne-Eickel, sie mit Kranz, Schleier und Schleppe; das Bild hängt in der Wohngemeinschaft. „Wenn du die Frau haben willst“, hatte Waltrauds Vater gemahnt, „nicht lange laufen, heiraten!“ Es war die Zeit, als junge Leute noch glaubten: „Von einem Kuss kriegst du ein Kind.“
Bernhard, der Bergmann, und Waltraud, die Verkäuferin, bekamen zwei: einen Sohn und acht Jahre später eine Tochter. Sie zogen sie groß, verreisten nach Bayern (sie liebte die Berge) und an die Ostsee (er liebte das Meer). Sie spielte Gitarre und backte ihm dicken Streuselkuchen. Er arbeitete unter Tage, holte als „Hauptanschläger“ später die Leute hoch, „zwei mal vier gleich Seilfahrt, das habe ich heute noch im Kopf“. Er holte aber auch die Leichen nach einem Wetterschlag und die Überlebenden mit der berühmten „Dahlbusch-Bombe“. „Schwere Zeiten“, sagt Rudnik, auch privat, als der Enkel starb. „Freud und Leid, so sagt man doch.“
Plötzlich vergaß auch er Dinge,das Alleinsein fiel ihm schwer
Gestritten haben sie selten, und wenn, wurde „nicht lange geknurrt. Hand geben, Kuss geben, alles klar“, so machten sie das, und zwar vor dem Schlafengehen. Nie waren sie getrennt, bis Waltraud in die Demenz-WG zog. Eine Zeit lang ging das gut, dann entdeckte Tochter Cornelia die Trübsal in Papas Gesicht, sah verweinte Augen. „Das Alleinsein“, sagt sie: „Der Fernseher kann auch nicht den ganzen Tag laufen.“ Später merkte Rudnik selbst: „Da stimmt doch was nicht!“ Er wurde vergesslich, machte den Ofen nicht aus. Diagnose: Demenz. Er auch.
So packte auch er seine Sachen, nicht viel, der Marmor-Tisch, die Schrankwand, es passte alles nicht in sein WG-Zimmer. Rudnik wohnt nun in einer anderen Wohngemeinschaft, eine Etage unter seiner Frau, er möchte es auch gar nicht anders: Er könnte sonst wieder nicht schlafen. Nach dem Frühstück geht er nach oben, dann sitzt er bei Waltraud, streichelt ihre Hand und erzählt ihr vom Leben. Manchmal küsst er sie, sie mag das. Bernhard Rudnik lächelt freundlich. „Man ist zufrieden“, sagt er, „wenn man sich sieht.“
>> INFO: Leben in einer Demenz-Wohngemeinschaft
In NRW leben inzwischen mehrere Tausend Demenz-Erkrankte in speziellen Wohngemeinschaften. Die Zahl der Einrichtungen wächst, seit das Land im Wohn- und Teilhabegesetz 2015 Hürden abgebaut hat.
Meist wohnen bis zu acht Demenz-Erkrankte zusammen. Das Haus in Gelsenkirchen wird vom Pflegedienst APD begleitet.