Bottrop. Martin Porwoll war Angestellter des Mannes, der wegen des Verdachts, Medizin gestreckt zu haben, in U-Haft sitzt. Er wandte sich an die Polizei.

Es war ein Abend kurz nach Karneval, als Martin Porwoll aus Bottrop zum „Verräter“ wurde. „Whistleblower“ sagt man heute: einer, der „etwas auffliegen lässt“. Vielleicht hat er damit Menschenleben gerettet. Eigentlich hatte Porwoll nichts weiter getan als gerechnet, lange nach Feierabend, und dann war es, „als ob ein Fallbeil ‘runterfällt“, „Hurra!“ und „Scheiße!“ in einem Moment: Die Rezepte in der Apotheke, deren kaufmännischer Leiter er war, passten nicht zusammen mit den abgerechneten Wirkstoffen. Also doch!

Seit neun Monaten sitzt der Apotheker, der sein Vorgesetzter war, in Untersuchungshaft, seit Juli nun liegt die Anklage beim Landgericht Essen: In mindestens 61 980 Fällen soll der 47-Jährige danach Krebsmedikamente zu schwach dosiert haben. Die Vorwürfe: Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz, Betrug, versuchte Körperverletzung. Wenn sie stimmen, hätten Tausende Patienten Medizin erhalten, die wenig wirkte – oder gar nicht.

© Fabian Strauch

An jenem Abend im Frühjahr dachte Martin Porwoll mit pochendem Herzen an seinen Chef: „Du kamst dir so schlau vor, aber jetzt habe ich dich erwischt.“ Er dachte aber auch an die Konsequenzen: daran, dass er seine Arbeit verlieren würde, an die Kollegen in der Apotheke, wo sie wie eine Familie waren. Es war Entsetzen und Genugtuung zugleich, Verantwortung und Verpflichtung. Aber es gab keinen Weg mehr zurück: „Wenn, dann richtig“, sagte sich der heute 46-Jährige. „Jetzt musst du auch den nächsten Schritt machen.“

"Hast Du etwas übersehen?"

Ein Medikament reicht nicht als Beweis, dachte Porwoll, also überprüfte er ein zweites und ein drittes. Er versuchte, die Sache sicherer zu machen und gibt doch zu: Es war auch ein Versuch, sie in die Länge zu ziehen; Anzeige erstattete er erst vor genau einem Jahr. Bis heute wacht er jeden Tag auf mit dem Gedanken: „Hast du etwas übersehen?“ Dabei haben längst andere übernommen, die Polizei kam viel weiter mit dem, was Porwoll „Schadensrechnung“ nennt, die Staatsanwaltschaft trug 820 Seiten Anklageschrift zusammen.

Bis sie zugriffen, musste Martin Porwoll dennoch warten. Zwölf Stunden und länger war er in der Apotheke, „wie ein geprügelter Hund“, arbeitete „100 Prozent für sie und 100 Prozent gegen sie“. Sein Blutdruck stieg, er schlief schlecht, litt unter Panikattacken.

Martin Porwoll kennt den Apotheker seit Kindertagen.
Martin Porwoll kennt den Apotheker seit Kindertagen. © Fabian Strauch

Am Ende habe eine Kollegin für den entscheidenden Hinweis gesorgt. Die pharmazeutisch-technische Assistentin steckte Ende Oktober einen Infusionsbeutel ein, brachte ihn zur Polizei. Die Ermittler bestätigten früh: Er war leer. Reine Kochsalzlösung. „Ein Glückstreffer“, sagt Porwoll, obwohl es das Gegenteil war. Vier Wochen später wurde die Apotheke durchsucht, der Inhaber verhaftet.

Jener Peter S., durch den Porwoll 2014 überhaupt erst in die Apotheke gekommen war. Man kannte sich seit Kindertagen, Porwoll wurde kaufmännischer Leiter. Für ihn war es DIE Adresse, „eine Ehre, da arbeiten zu dürfen“. Aber es gab auch die Gerüchte, von Anfang an.

Angestellte hatten keine Beweise

Dass der Apotheker mit Straßenkleidung und Hund in den Reinraum ging, sagt er, habe er selbst gesehen, jeden Morgen um sechs. Dass er gepanscht, verdünnt, umetikettiert haben soll, hätten „alle gewusst“: „Es war kein Geheimnis, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht. Jedem war klar, was hier passiert.“ Man habe aber gedacht, „wir können nichts machen“. Keine Beweise. Das Verhältnis der Abhängigkeit: „Man sagt doch nichts gegen den Chef. Wenn ein Angestellter das getan hätte, der hätte ihn rausgeschmissen.“

Man drückt das weg, sagt Martin Porwoll, „die himmelschreienden Missstände“ aber hätten ihn immer wieder eingeholt. Vielleicht hat er zu lange gezögert, vermutet und doch nicht geglaubt. Das Problem, sagt er heute mit dem Abstand der Zeit, sei gewesen: „Der Ausnahmezustand war Normalität. Das verhindert klares Denken.“ Doch irgendwann schaffte Porwoll es nicht mehr, die Geschichte ohne die Patienten zu sehen, all jene, die um ihr Leben fürchten – oder es schon verloren haben. "Man kann doch nicht Teil einer Maschine sein, die Menschen vernichtet.“ Da begann er, der Zugriff hatte auf Bestellungen und auf das Rezept-Archiv, zu rechnen.

Wollte nicht mehr „Teil einer Maschine sein, die Menschen vernichtet“: Martin Porwoll.
Wollte nicht mehr „Teil einer Maschine sein, die Menschen vernichtet“: Martin Porwoll. © Fabian Strauch

Zwei Tage nach der Festnahme des Chefs bekam Martin Porwoll die Kündigung. Er war nervös, obwohl er wusste, was passieren würde. Man saß im „Jagdzimmer“, es war, „wie ein Tribunal“. Drei Männer machten ihm Vorwürfe, „die Familie zerstört“, „das Unternehmen ruiniert“, nur den einen, sagt er, machten sie ihm nicht: dass er einen unschuldigen Menschen ins Gefängnis gebracht habe.

Die Kontrollen durch das System? "Lächerlich!"

Es war auch nie sein Ziel. Martin Porwoll geht es nicht um Peter S., es war ihm „wichtig, dass das aufhört“. Es geht ihm um die Patienten. Und um das „System“: Die Kontrollen durch die Behörden seien „lächerlich“, der Markt für Krebsmittel „katastrophal dereguliert“. Porwoll will, dass sich das ändert: „Unser System ermöglicht immer noch, dass ein anderer Apotheker es genauso macht.“

Fertig ist der „Whistleblower“ deshalb noch nicht. Das Wort klingt hübsch, für viele, auch in der Apotheke, ist er auf gut Deutsch aber ein „Verräter“. „Das hat nichts Positives.“ Der vierfache Familienvater, hat sich oft beworben, vergeblich: „Man ist verbrannt.“ Niemand wolle einen Mitarbeiter, „der zu genau nachguckt“. Martin Porwoll kann damit leben, es geht ihm besser. Seit gestern ist er offiziell selbstständig, als Berater.

Und er kämpft weiter, demnächst wohl als Zeuge vor Gericht. „Das ist noch nicht zu Ende.“

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INFO: Anklage spricht von fast 62 000 Fällen

Seit Ende November 2016 sitzt der Bottroper Apotheker Peter S. in Untersuchungshaft. Mitte Juli hat die Essener Staatsanwaltschaft Anklage erhoben. Danach soll der 47-Jährige mindestens seit 2011 in seiner auf Krebsmedikamente spezialisierten Apotheke teure Infusionen gestreckt haben.

Allein die gesetzlichen Krankenkassen soll er so um 56 Millionen Euro geprellt haben. In der Anklage geht es um 61 980 Fälle von schweren Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz. Der Pharmazeut soll so wenig Wirkstoff verwendet haben, dass die Infusionen kaum oder gar keine Wirkung hatten. In mindestens einem Beutel war sogar lediglich reine Kochsalzlösung enthalten, bestätigten die Ermittler.

Angeklagt sind zudem gewerbsmäßiger Betrug und versuchte Körperverletzung. Viele Krebspatienten oder ihre Hinterbliebenen haben wegen Körperverletzung oder Tötungsdelikten Anzeige erstattet. Sie werden nun von der Staatsanwaltschaft befragt. Andere wollen auf zivilem Wege klagen. Noch immer aber sind laut Landesgesundheitsministerium noch nicht alle möglicherweise Betroffenen überhaupt informiert.