Oberhausen. . Seit einem halben Jahrhundert finden kranke und kriegsverletzte Kinder aus Krisengebieten hier Hilfe – und die Hoffnung auf ein besseres Leben.
Eigentlich wollte das Friedensdorf mit Israel und dem Nahen Osten anfangen, aber dann überholten sich die Kriege, und so kamen die ersten Kinder 1967 aus Vietnam. Schwere Verletzungen hatten sie von Granaten und Minen und schwere Verbrennungen von Napalm. Der Verein aus Oberhausen organisierte Flüge, Krankenhäuser, die kostenlos operierten, Freiwillige, die betreuten, und die Nachsorge und Reha im Oberhausener Dorf.
Er tut es bis heute, ein halbes Jahrhundert nun schon. Hinzugekommen sind längst friedenspädagogische Arbeit und der Aufbau von Gesundheitsstationen in vielen Ländern. Richtig gefeiert wird dieser 6. Juli, Tag der Gründung, nicht. Weil man gehofft hatte, „unsere Arbeit würde sich irgendwann erübrigen“, sagt der jetzige Leiter Thomas Jacobs, 62. Die Geschichte habe aber gezeigt, dass es heute wesentlich mehr Krisenherde gebe: „Traurig, dass es eine Einrichtung wie unsere überhaupt geben muss.“
Noch immer holt das Friedensdorf also Kinder aus Afrika, aus Zentralasien, 2015 auch aus Palästina nach Deutschland. Kriegsverletzungen haben sie, häufiger noch Knochenentzündung en, Verbrennungen, Behinderungen, die im Heimatland nicht behandelt werden können. Stets mit dem Versprechen an die Eltern, dass das Kind nach der Behandlung zurückkehrt, gesund, wenn es geht. Oft dauert das ein Jahr, manchmal zwei.
Finanziert wird das allein durch Spenden. Ein von jeher schwer kalkulierbares Risiko für den Verein. Dazu kommt ein neues Problem: Die Bereitschaft von Ärzten und Kliniken, Freibetten zur Verfügung zu stellen, geht wegen des Kostendrucks zurück.
120 festangestellte und 50 ehrenamtliche Mitarbeiter sorgen für die Kinder, so weit weg von daheim. Für sie mehr Berufung als Beruf: „Diese Arbeit“, sagt Thomas Jacobs, „muss man leben, die kann man nicht erarbeiten.“ Manchmal setzt sich der Chef auf eine selbstgebaute Bank und sieht „seinen“ Kindern zu: wie sie lachen, wie sie spielen und toben, über die Grenzen ihrer kleinen Körper, aber auch die von Religion und Herkunft hinweg. „Dann weiß ich, warum wir immer noch da sind.“ Es ist der Frieden, den sie meinen.
Die Welt im Dorf - Angolanische Mädchen
Osvalda ist jetzt neun, sie wächst schnell, aber ihr linkes Bein wächst schon ihr halbes Leben nicht mehr mit. Drei Jahre lang ist das Mädchen in Angola so herumgelaufen, jedenfalls, was man so „Laufen“ nennt: mit einer schweren Knochenentzündung, die das Bein verformte und den Knochen absterben ließ, bis er schwarz aus der Haut ragte. Im Krankenhaus, sagt Osvalda, haben sie „den Knochen abgebrochen“, das muss noch in Angola gewesen sein, wo die Gesundheitsversorgung schlecht ist. Die Operationen in Deutschland zählt sie an ihren Fingern ab: „Bakterien wegmachen, Fixateur dranmachen, Fixateur umdrehen. . .“ Fünfmal hat sie so „geschlafen“, so nennen die Kinder im Friedensdorf die Narkosen.
Ein Jahr lang ist Osvalda nun hier und mit der Schnute immer vorneweg. Am Hinterkopf trägt sie winzige Zöpfchen, aber nur, weil die Frisur noch nicht fertig ist: Angolanische Mädchen können stundenlang flechten. Basteln mag Osvalda aber auch, Kochen „und Mathematik“. Das macht sie im „Lernhaus“. Oder sie singt, zusammen mit den anderen, darin sind die kleinen Angolaner groß: Wenn gefeiert wird im Dorf, machen die afrikanischen Kinder die Musik.
Nur wenn Osvalda an Angola denkt, wird sie kurz still. Sie hat eine kleine Schwester dort, „ich glaub’, die hat mich vergessen“. Wenn sie erst wieder zurück ist, dann wird sie ihr erzählen, „dass ich Chips gegessen habe im Krankenhaus“. Und dass neulich wieder einer der Jungs auf den verbotenen roten Knopf gedrückt hat. Wie also Feueralarm war und Osvalda schnell hinausrennen musste – und vor lauter Aufregung ihre Krücken vergaß.
Afghanische Jungs - Knochenentzündungen machen die größten Probleme
„Error“ steht auf dem Pullover von Samadullah, der neun ist „oder so ähnlich“, aber aussieht wie zwölf. Und tatsächlich muss es ein Irrtum sein: dass dieser afghanische Junge mit dem Gesicht einer Porzellanpuppe nicht mehr Fußballspielen kann und auch kein Kricket, dass er ohne Krücken nicht gehen und schon drei Jahre nicht mehr zur Schule kann. „Fuß entzündet, toter Knochen“, sagt Samadullah, es klingt so lapidar, doch dann rechnet er seine Operationen vor: acht in Afghanistan, eine in Pakistan, 20 in Deutschland. 29 Operationen!
Und nun sitzt Samadullah im Friedensdorf, einen riesigen Fixateur unter der Jogginghose, der sein Bein zusammenhält, und sagt auf die Frage, was er als erstes tun wird, wenn er wieder nach Hause kommt: „Schule.“ Drei, vier Monate wird das noch dauern; er ist jetzt schon zwei Jahre in Deutschland und muss nachdenken, wie viele Geschwister eigentlich daheim auf ihn warten. „Vergessen“, sagt er und grinst schief. Acht, fällt ihm dann ein. Der Papa fährt Auto und verkauft Schuhe, manchmal arbeitet er aber auch mit Holz. Wie sein Sohn: Der hat im Friedensdorf gerade ein Vogelhaus gebaut.
Shah Faizal auch, aber er sagt, es ist ein richtiges Haus. Acht Monate ist auch er jetzt schon in Deutschland, seine Knochenentzündung wurde operiert in Jallalabad, in Haan und am Evangelischen Krankenhaus in Gelsenkirchen. „Viermal geschlafen“, erklärt Shah Faizal mit seiner heiseren Stimme, vier Narkosen. Der Elfjährige läuft jetzt auf einer riesigen Schuh-Erhöhung, aber er läuft. Natürlich braucht er noch Krücken, die alle Kinder im Friedensdorf „mulettas“ nennen: Portugiesisch für Gehhilfe, sie haben das von den Angolanern. Shah Faizal hat ein Freundschafts-Armband von einem Angolaner, er heißt Ernesto, ist aber mit dem letzten Einsatz im Mai nach Hause geflogen.
Mit Ernesto hat der Elfjährige Murmeln gespielt und „Mitarbeiter-geben-Spielzeug“. Jetzt hilft er diesen Mitarbeitern: Heute Morgen hat er noch Betten bezogen. Oder besser: gesagt, wer welches beziehen soll. Shah Faizal knackt nervös mit den Fingern. Was er später mal werden will? Eine tiefe fragende Falte auf der Stirn. „Schule.“ Und danach? „Arbeiten.“ Sie sagen den Kindern im Friedensdorf oft: „Wer kaputte Beine hat, muss ganz viel mit dem Kopf arbeiten.“
Die Vietnamesinnen - Sie waren die Ersten im Friedensdorf. Mehr als 100 sind geblieben
Die „Langnasen“ sollten machen, dass sie wieder laufen konnten: Nop, der eine amerikanische Granate beide Beine weggerissen hatte, und Hao, deren Beine die Polio gelähmt hatte. Acht Jahre alt war Nop Bui Thi, ein Kriegskind aus Vietnam, sie hasste alles, was westliche Welt war. Aber ihr Vater versprach ihr, was die Ärzte ihm versprochen hatten: „In Deutschland bekommst du neue Beine.“ Hao war elf, „mein Gott, man ist so klein“. Sie gehörte zur letzten Gruppe kleiner Vietnamesen, die ins Friedensdorf kamen, Frühjahr 1975. Im Sommer war zuhause der Krieg zu Ende – und kein Kind konnte mehr zurück.
Mehr als 100 waren sie, die ihre eigene, nun kommunistische Heimat nicht mehr aufnahm, und auch im Friedensdorf gab es Menschen, die diese Kinder nicht ziehen lassen wollten in ein verfeindetes System. Also blieben sie, die meisten sind bis heute da. Manche spüren ihre Beschwerden wieder stärker mit dem Alter, Nop und Hao humpeln beide stark. Hao ist inzwischen 53 und sagt: „Es wäre schlimmer, wenn wir in Vietnam wären.“ Nop, 56, glaubt: „In Vietnam würde ich vielleicht nicht mehr leben.“
Sie haben geheiratet in Deutschland, Nop ihren Klaus, der damals Praktikant war im Friedensdorf. Sie haben Berufe erlernt, Kinder bekommen. Und tatsächlich: die Heimat nur selten vermisst. „Ich habe so viele nette Leute kennengelernt“, sagt Nop, „alle haben mich lieb gehabt. Nichts zu meckern!“ Und Hao, die aufwuchs mit neun Geschwistern, hatte ja plötzlich 15 Vietnamesen in ihrer Gruppe, „man ist unter Freunden“. Und durfte zur Schule: Da war Nop daheim nie gewesen, und Hao musste lange laufen – was mit den kranken Beinen kaum mehr ging.
Anfangs noch hat Nop gewartet, immer mittwochs und sonntags auf den Papa: „Ich komme dich besuchen“, hatte der gesagt, und in Vietnam ist an den beiden Tagen Besuchszeit. „Ich wusste ja nicht, wo De utschland ist. Und dass meine Eltern nie kommen würden.“ Schon in Vietnam war Nop viel allein gewesen im Krankenhaus, und wenn nicht, dann turnten andere Kinder über ihre schmerzenden Stümpfe, und von draußen klang der Lärm des Krieges. Nach Deutschland sollte sie? „Schlechter als in Vietnam konnte das nicht sein.“
Viele Jahre später hat Nop ihre Eltern wiedergefunden, Bauern waren sie auf dem Land, sie hätten kein Geld gehabt für gute Prothesen. Nop schickte Päckchen, die ein halbes Jahr bis nach Asien brauchten, mit Salz vor allem, weil man ihr sagte, in Vietnam könne man alles gebrauchen. Nur Salz, Salz hatten sie dort genug. Nop könnte sich kaputtlachen über die alten Geschichten, sie kichert mit Hao, als seien sie noch die kleinen Mädchen von einst.
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Das Friedensdorf hat den vietnamesischen Kindern damals den Schulbesuch ermöglicht, sie krankenversichert, für eine Ausbildung gesorgt. Den Oberhausenern hätte es fast das Genick gebrochen, lange Jahre war Einzelfallhilfe für andere Länder nicht mehr möglich.
Inzwischen hilft Nop selbst: Sie hat Geld gesammelt, Schulen gebaut am Fluss, an dem sie aufwuchs, in dem zu Kriegszeiten die Leichen schwammen. Das Friedensdorf hat mehr als 100 Basis-Gesundheitsstationen eingerichtet in Vietnam. Die vietnamesischen Kinder, hier wie dort, brauchen die Hilfe aus Oberhausen nicht mehr.
Die Japaner - Das „Land des Lächelns“ liebt die Idee
Es ist alles die Schuld von Chi. Die Schauspielerin, mit vollem Namen Chizuru Azuma, ist in Japan berühmt. Und sie hat das Friedensdorf dort berühmt gemacht. Mehrfach filmte Chi in Oberhausen, trug die Bilder der Kinder nach Japan, das vor 20 Jahren so etwas wie ehrenamtliche Arbeit gar nicht kannte – aber schnell liebte.
So kam Maki Nakaoka ins Ruhrgebiet, als Praktikantin wie so viele nach ihr, die einen Job kündigen, um ein Jahr in Deutschland zu arbeiten.
Nur, Maki blieb. Die 41-Jährige übersetzt, koordiniert die Einsätze von inzwischen 250 Praktikanten aus dem „Land des Lächelns“ – immer lächelnd. „Das Friedensdorf“, sagt Maki, „hat Japan die Augen geöffnet für das, was in der Welt passiert.“ Sie wollte nur ein bisschen bleiben, „etwas machen für die Kinder“ – und ist jetzt schon 17 Jahre da. Längst hat Maki Nakaoka von ihrem Ehemann einen zweiten, deutschen Namen: mit Ü, deshalb kann sie ihn nicht aussprechen.
Yosuke Ishii dagegen ist nicht wegen des Friedensdorfs gekommen, aber seinetwegen geblieben. Es war nicht einfach für den 38-Jährigen, am Anfang in Düsseldorf, er war einsam und hatte nicht viel zu tun.
„Aber die Kinder haben mir Motivation gegeben“, sagt der Therapeut. Regelmäßig ist Yosuke nun da, behandelt ehrenamtlich kleine Schmerzpatienten mit traditioneller japanischer Medizin. „Immer bisschen besser“, sagt Samadullah und liegt ganz still, wenn Yosuke mit seinen Kräutern kommt. Den Familienvater macht das dankbar: „Die Kinder sind so fröhlich.“
Die Ehrenamtlichen - 50 Freiwillige schenken den Kindern ihre Zeit
Eigentlich wollte Sandra van de Schans zu „Kleine Kinder“, in das Haus an der Rua Hiroshima, wo die kranken Kleinkinder betreut werden. Aber das Friedensdorf brauchte jemanden für „Große Jungs“, die Neun-bis Zwölfjährigen, die trotz Kraft oft kaum laufen können an ihren Krücken. Und weil die 47-Jährige selbst sagt, dass sie eine „Jungsmutter“ ist – vom Typ her und im richtigen Leben –, spielt sie jetzt jeden Mittwoch Fußball. Oder geht spazieren, deutsche Häuser angucken. Oder macht Betten. Oder verteilt Milchreis. Oder erklärt Zähneputzen. Oder duscht „mal eben fünf Kinder“. Oder sie hört einfach zu, wenn die Jungen von zuhause erzählen. Manche tun das. Manche schweigen lieber.
Vielleicht macht es das einfacher, wenn Sandra van de Schans, die Frau aus der Kommunikationsbranche, nicht zu viel weiß über ihre Schützlinge. Es gab diesen Jungen, Abdul, den betreute sie auch im Krankenhaus, ging später Eisessen mit ihm, und als er heimflog nach Afghanistan, „das war sehr traurig“. Sie weiß nicht, was aus ihm geworden ist, das ist normal für die 50 Ehrenamtlichen im Dorf: Da kommen kranke Kinder, man gewöhnt sich aneinander, und dann gehen sie gesund wieder fort. Das ist schön und schaurig zugleich, jedes Mal.
Beim ersten Besuch „sofort verliebt“
Eigentlich wollte die Mülheimerin vor fünf Jahren nur „ein bisschen was helfen“ im Friedensdorf, aber dann war sie „sofort verliebt“. In diese Kinder, die es so schwer haben und es den Helfern so leicht machen. Die „Sandra, Sandra!“ rufen und in Zweierreihen hinter ihr herlaufen zum Spielplatz; bald streiten sie sogar, wer mitdarf und wer erst nächste Woche. Oder in einer Stunde, der Nachmittag ist lang. Wofür macht man sowas, Frau van de Schans? „Es ist ganz viel Glück.“
Die Ehemaligen - Viele Kinder erinnern sich an „eine schöne Welt“
Nigora hat noch ihr Freundschaftsbändchen. Alle Kinder im Friedensdorf haben welche, manche so viele, dass ihnen die Arme schwer werden oder sie unter der Last der Halsketten gebückt nach Hause zurückkehren. Nigora bekam ihres von einer Freundin im Friedensdorf, bevor sie heimreiste nach Tadschikistan. Das war im Jahr 2000. Ein Jahr lang war sie in Deutschland behandelt worden wegen massiver Bewegungseinschränkungen nach einer schweren Verbrennung. Man ahnt noch die Narben an ihrem Hals, aber meistens trägt Nigora ein Tuch oder einen Schal.
Heute ist sie 28 Jahre alt und selbst Mutter, sie arbeitet als Krankenschwester in ihrer zentralasiatischen Heimat. Wenn zweimal im Jahr der Friedensdorf-Flieger kommt, Kinder nach Hause bringt und neue abholt, dann hilft Nigora ehrenamtlich mit. Selbst ist sie auch noch einmal nach Oberhausen zurückgekehrt: für ein Praktikum. Weil sie ebenfalls Kindern helfen wollte, so wie ihr geholfen worden war.
Nigora sagt: „Das Friedensdorf gab mir eine große Chance auf Gesundheit und eine gute Zukunft.“ Nichts hat sie vergessen, „Doctor Maya“ nicht und den Speisesaal, und überhaupt erinnert sie sich „an jede Minute“. Und sie erzählt bis heute, dass man im Friedensdorf nicht isst, „ohne dass ich Guten Appetit sage“. Für Nigora aus Tadschikistan war und bleibt das Friedensdorf „eine schöne Welt“.
INFO: SPENDEN UND JUBILÄUMSFEST
Zum 50. Geburtstag gibt es am Gründungstag, 6. Juli, einen Sternmarsch von Oberhausener Schulen zum Friedensplatz. Ein Musikfestival zugunsten des Dorfs steigt am Samstag, 8. Juli, ab 17 Uhr im Walzwerk Dinslaken. Der Eintritt kostet 10 Euro.
Spendenkonto: Stadtsparkasse Oberhausen, IBAN DE59 3655 0000 0000 1024 00.