Ruhrgebiet. . An 46 Spielorten hat das Ruhrgebiet am Samstag sich selbst verzaubert mit Licht, Musik und Schauspiel. Ein Rätsel aber bleibt alle Jahre gleich.
In der Höhe geht es über Laufgitter und Baustellentreppen und durch den Ofentürreparaturstand, das Wort „Verkohlungsprozess“ fällt gerade, „Bunkertasche“ noch dazu. „Wir lieben hier lange Wörter. Kennen Sie Kokskuchenführungswagen?“, fragt eine junge Helferin – nein, kennt natürlich niemand mehr.
Soviel Neues mit jedem Schritt, soviel Ungesehenes, soviel Erhabenes. „Boah“ sagen Leute dann oder „Kann man da mal hinter gucken?“ Denn die ehemalige Kokerei Hansa gehört heutzutage in die Kategorie „begehbare Großskulptur“, und am frühen Samstagabend nutzen Hunderte die erste Gelegenheit. Es ist doch Extraschicht.
Das inoffizielle Sommerfest des Reviers
Deren Thema immer ist: Das geheime Leben der Räume. Ich sehe was, was du nicht siehst.
Das ist sie also wieder. Die lange Nacht der Industriekultur. Das inoffizielle Sommerfest des Reviers. Im siebzehnten Jahr. Vom alten Ruhrgebiet erzählt die Nacht. Und dann: Wird alles Licht. Die Feuerwerke. Die Installationen.
Bunte Lichter streicheln Werke. In solcher Zahl, dass Spötter behaupten, jeder mobile Scheinwerfer Deutschlands sei in dieser Nacht hier. Grün, grün, grün sind alle meine Zechen.
Die Besucher bezahlen mit Wartezeit
Menschen kraxeln über Halden, und hinter der nächsten Biegung sitzt mutmaßlich ein Pianist. Alte Filme sind zu sehen, A-Cappella-Chöre zu hören, da kommt ein Stelzengänger, und dort sitzt jemand im Ohrensessel im Wald und liest „Rumpelstilzchen“ vor. Und immer wieder diese Führungen, die es sonst nie gibt, oder nichts nachts, oder nicht mit Beiwerk.
Allerdings bezahlen die Menschen ihre Vorfreude häufig in Wartezeit. „Dafür gibt es hier noch viel anderes zu entdecken“, sagt Christa Ludwig im Landschaftspark Duisburg-Nord und schiebt sich weiter. Der spricht anderntags von einen Besucherrekord: 24 500 Leute. „So voll war es in all den Jahren noch nie“, sagt Sprecherin Claudia Kalinowski.
Das Geräusch eines Schaufensters
235 000 sollen insgesamt bei dieser Extraschicht gewesen sein, meldet am frühen Sonntag die „Ruhr Tourismus GmbH“ und beschreibt voller Stolz „Shows und Führungen, Mitmachaktionen, Theater und Gesang, Comedy und Quatsch“.
Wann darf man jemals, wie in Oberhausen, Schrottautos mit Vorschlaghämmern und in zerstörerischer Absicht zu nahe treten? Das beste Beispiel aber kommt aus Bottrop: Schauspieler ahmen das Geräusch nach, das Schaufenster machen, wenn sie gewischt werden.
„Ins Bett fallen wie tot“
Das Ehepaar Durt („wie Durst ohne s“) aus Ennepetal ist auch wieder dabei, wie fast jedes Mal. „Die ganzen Standorte, die kann man ja gar nicht schaffen. Es ist eigentlich immer schön“, sagt Klaus-Peter. „Und wir lernen immer Leute kennen“, sagt Heide-Marie.
Oder Eckhart Kreutzer aus Hamm. Früher Steiger. Heute „Lebende Wissensinsel“. Acht Stunden wird er Besuchern etwas erzählen. Und dann „ins Bett fallen wie tot“ – das kennt er ja noch vom letzten Mal.
Spät in der Nacht ist die „Straße des Bohrhammers 5“ ein Wimmelbild der Lebensfreude. Grüne, blaue und gelbe Lichtfinger tasten die Backsteinfassade der Flottmann-Hallen ab, Hunderte junge Menschen tanzen in und vor der Halle; manchmal singen sie mit. „Hör gut zu“, wie witzig auf einer Kopfhörerparty: Alle haben ja einen auf.
„Das hat voll aufgehört“
Dann singen sie „It’s raining men“ – aber leider nicht nur. Zur Extraschicht gehört zwingend, dass man nass wird. Da kann David Rauterberg, der Vorsänger des Rudelsingens, auf der Bühne hundert Mal sagen: „Das hat voll aufgehört.“
Warum es immer reinregnet in die Ruhrgebietsnacht der Nächte, wäre mal ein Forschungsprojekt wert. Bitte gut dotiert. Planen Sie für den 30. Juni 2018 besser nichts unter freiem Himmel. Gar nichts.