Ruhrgebiet. . Ein Forderprogramm will Schülern helfen, ihr Potenzial auszuschöpfen. Sie erhalten Praktika und Nachhilfe. Vier Talente schauen in die Zukunft.
Wenn jeder Schüler sein Talent voll entfalten könnte... Wenn er Menschen hätte, die ihn dabei schon in der Schule begleiten... Wenn gerade denen geholfen würde, die sonst schlechte Chancen hätten... Würde das nicht die Region verändern?
Das Programm „Ruhrtalente“ ist allerdings noch jung. Gestartet im laufenden Schuljahr, unterstützt es derzeit 50 Jugendliche aus dem Ruhrgebiet ab der 8. Klasse mit Stipendien. Sie alle zeigen Leistung und soziales Engagement, wachsen aber „weniger privilegiert“ auf. „Ruhrtalente“, angesiedelt beim NRW-Zentrum für Talentförderung in Gelsenkirchen, ist damit das größte derartige Programm in der Region. Die RAG Stiftung finanziert es mit 1,7 Millionen Euro im Jahr.
Die Schüler können Seminare und Workshops belegen, Firmen besichtigen und Praktika machen, Benimm-Kurse oder Nachhilfe belegen und vieles mehr.
Wir haben vier der ersten Teilnehmer nach ihren Zielen befragt:
Zwischen Astrophysik und Theater
Maik Witasik weiß, was er will: Physik studieren und seinen Master in München machen. „Die bieten Kern-, Teilchen- und Astrophysik an, großartig“, sagt der Wattenscheider (17). Schon als Kind faszinierte ihn Naturwissenschaft: „Erst hab ich gefragt: Warum ist das Gras grün? Und als sie mir sagten, das macht das Chlorophyll, wollte ich wissen: wie?“ Kernfusionsreaktor-Konstrukteur: Das wäre ein Traumberuf für den Gymnasiasten.
Doch nicht nur das unterscheidet Ruhr-Talent Maik Witasik von anderen 17-Jährigen. Seine zweite große Liebe nämlich gilt – dem Theater. Seit ihn eine Mitschülerin bat, bei Streichers „Verlegenheitskind“ den Franz zu spielen, „bin ich ihm verfallen“.
Plötzlich Stipendiat
Nach dem ersten Auftritt im Thorpe-Heimatmuseum zitterten ihm zwar unglaublich die Hände, aber er wusste: Das ist mein Ding. Inzwischen leitet Maik, dem man durchaus ansieht, das er auch gern Kraftsport macht, ein eigenes Theaterprojekt. Gerade schreibt seine Truppe an ihrem ersten Stück, einer Komödie um ein Kind vom Land in der Stadt.
Die Freunde wollten es zunächst gar nicht glauben, dass er jetzt Stipendiat ist. Er empfahl eine Bewerbung auch ihnen. „Ich würde es auch ohne diese Hilfe schaffen“, sagt er selbstbewusst. „Aber es würde hart für mich.“ Seine Eltern kommen aus Polen, die Mutter ist Altenpflegerin, der Vater Verfahrensmechaniker – in München zu studieren, „wäre ohne Stipendium ganz sicher nicht drin“.
Sieht er sich selbst als Talent? Klar, meint er grinsend: „Ich bin sehr leistungsstark und sozial engagiert, will an meinen Schwächen (Sprache!) arbeiten.“ Und dann schiebt er leise und erstaunlich ernst nach: „Haben Sie Fiona mal singen hören, meine Mitstipendiatin? Die ist ein echtes Talent...!“
>>> Ein Schiri kämpft gegen Ungerechtigkeit
„Keiner hat Ungerechtigkeit verdient“, sagt Alae Eddine Sanaa (17). „Wenn der Stärkere sich durchsetzt und der Schwächere nichts hat, das kann ich nicht leiden“, sagt der Schüler der Gesamtschule Holsterhausen in Essen. Seit drei Jahren ist er Mitglied der SPD, „weil sich die Partei für Gerechtigkeit einsetzt“. Sein politisches Vorbild ist ein großes: Martin Luther King.
Stipendium kam indirekt über Löhrmann
An das Schülerstipendium kam er indirekt ausgerechnet über Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne). Sie war es, die einen Talentscout auf den aufgeweckten Schüler aufmerksam machte. Und das kam so: Alae Eddine hatte die Ministerin an seine Schule eingeladen, damals ging er noch zur Gertrud-Bäumer-Realschule. „Wer könnte uns besser etwas über Bildung erklären“, sagt er. Also schrieb er ihr eine E-Mail.
Nach vier Wochen kam ihre Zusage – aber bis dahin hatte er seine Schule davon noch gar nicht unterrichtet. „Dann sagte ich der Lehrerin, dass die Ministerin kommt. Da war sie baff.“ Im Januar 2016 kam Sylvia Löhrmann, informierte sich über das Projekt „Einheit in Vielfalt“ – und war offenbar beeindruckt.
Das Schülerstipendium will er jetzt nutzen, um seine Sprachen zu verbessern, vielleicht ins Ausland zu reisen. In seiner Freizeit pfeift der RWE-Fan Fußballspiele. Nicht wegen der Gerechtigkeit – „als Spieler bin ich nicht so gut“.
>>> Engagierte Ansprechpartnerin im Jugendzentrum
Heute sei das so wichtig geworden, sagt Chaymae Bouyakoub: „Wie einer aussieht, wo er herkommt. Als ich Kind war, haben wir alle zusammen gespielt, Mädchen und Jungen, egal welcher Kultur, egal welcher Hautfarbe.“ Die 18 Jahre alte Marokkanerin lebt in der Dortmunder Nordstadt, ihr liebster „Spielplatz“ als Kind war das Jugendzentrum „Hannibal“.
Heute ist sie dessen Sprecherin.
„Ich mag Schwierigkeiten“
Gut zehn Stunden pro Woche verbringt die Schülerin eines Wirtschaftskollegs dort, ist Ansprechpartner bei Sorgen, hilft bei Hausaufgaben und Bewerbungen. Weil es ihr Spaß macht und weil sie es „traurig“ findet, wenn Kinder „allein vor der Playstation sitzen“. Die Kindheit „muss man genießen“, sagt sie.
Dabei ist Chaymae keine, die für sich selbst den leichten Weg wollte. „Ich konfrontiere mich gerne mit Schwierigkeiten“, sagt sie. Englisch etwa wählte sie als Hauptfach. „Deutsch mag ich mehr, Englisch ist mein schlechtestes Fach. Aber ich dachte, ich brauch’ das, wenn ich irgendwann einmal international arbeiten will!“ Als Ruhr-Talent bekommt sie nun Nachhilfe.
Ein Talentscout „entdeckte“ Chaymae, „gefühlte 100 000-mal“ habe sie die Bewerbung ums Stipendium überarbeitet und erst in letzter Sekunde abgegeben. „Aber da war ich mir sicher, es wird nicht schiefgehen“, erinnert sich die Zwölftklässlerin.
Eine Sprachreise nach England und ein („eigener!“) Laptop stünden auf ihrem Wunschzettel als Stipendiatin. Bei ihr zuhause – Chaymaes Familie lebt auf wenig Raum in einem der Hannibal-Terrassenhäuser, der Vater arbeitet bei Thyssen-Krupp, die Mutter ist Hausfrau und spricht nur berberisch – gibt es nicht einmal Internet.
>>>> Bio und Mathe sind „unglaublich spannend“
Ein wenig fuchst es Melina Baumann, dass sie bei der Grubenfahrt nicht dabei sein kann. Weil ihr Papa mal Bergmann auf Zeche Monopol war. Weil es eine der ersten Aktivitäten überhaupt ist, zu der man sie als „Ruhr-Talent“ einlud.
Aber auf die Grubenfahrt muss das Mädchen aus Kamen noch warten. 16-Jährige sind unter Tage verboten.
Für die vier „Forscher“-Tage in den Osterferien im Wuppertaler „BayLab“, dem Versuchslabor des Bayer-Konzerns, hat sie sich aber sofort angemeldet. Denn Naturwissenschaft findet die Gesamtschülerin „unglaublich spannend“. Es interessiere sie, „wie das alles funktioniert, wie alles entstand“; Bio und Mathe hat die Zehntklässlerin als Leistungskurse gewählt.
Zielstrebig und leistungsbereit
Ob sie später auch beruflich diese Richtung einschlagen wird? „Ich möchte gerne studieren, aber ich weiß noch nicht, was. Deshalb wollte ich ja das Stipendium. Mir geht’s dabei vor allem um die Berufsorientierung.“
Ein Berufsberater, dem Engagement, Eifer und Zielstrebigkeit der zarten Person wohl imponierten, stellte sie vor einem Jahr einem Talentscout vor. „Du bist ein Kandidat fürs Stipendium“, befand der rasch.
Melinas Eltern – der Vater arbeitet heute bei einer Maschinenbau-Firma, die Mutter ist Reinigungskraft – waren skeptisch, „aber dann doch auch stolz, als ich ihnen die Urkunde zeigte“, erzählt die 16-Jährige, die neben ihrem Sport (seit elf Jahren spielt sie Handball) einem Sechstklässler „mit einer kleinen Lernschwäche“ Nachhilfe gibt („in allen Fächern, und er ist schon besser geworden“) und ehrenamtlich die Französisch AG ihrer alten Grundschule betreut. „Man will ja bodenständig bleiben“, sagt sie.