Bottrop. . Der Pharmazeut soll massenhaft Krebsmedikamente gestreckt haben, um sich zu bereichern. Kollegen sind entsetzt, Betroffene verunsichert.

Noch kann der Krebsarzt Dirk Pott es „einfach nicht glauben“. Auch in seiner Onkologischen Praxis in Bottrop wurden Patienten mit Medikamenten behandelt, die möglicherweise gestreckt waren: von einem 46-jährigen Apotheker aus der Stadt, der seit Dienstag in Untersuchungshaft sitzt. Er soll Infusionen zur Krebsimmuntherapie „abweichend von den ärztlicherseits vorgegeben Rezepturen“ verdünnt haben, wirft ihm die Essener Staatsanwältin Anette Milk vor. Seit 2012 schon und in „mindestens 40 000 Einzelfällen“

Arzt erwartet Fragen der Patienten

.„Falls sich das als wahr erweist“, sagt Mediziner Pott, „wäre das absolut verwerflich gegenüber Patienten und Ärzten.“ Er ahnt, was nun in seinen Patienten vorgeht, was sie ihn fragen werden: Habe auch ich eine oder mehrere dieser falsch dosierten Infusionen bekommen? Welche Folgen kann es für mich haben, wenn darin weniger Medikamente waren, als mein Arzt mir verordnet hat? Die Infusionen nämlich sind „normalerweise abgestimmt auf die Heftigkeit des Krebses“, erklärt Florian Mies, Vorsitzender des Bottroper Apothekerverbandes.

Was Dr. Pott den verunsicherten Menschen antworten kann, ist nicht ganz klar. „Wenn man die Medikamente unterdosiert, mag es sein, dass sie nicht optimal wirken“, sagt der Mediziner in aller Vorsicht. Ziel der Immuntherapie sei es, den Menschen trotz ihrer schweren Erkrankung ein halbwegs normales Leben zu ermöglichen. Es hätten aber offenbar nicht immer dieselben falsch zubereitete Infusionen erhalten.

Tatsächlich gilt die Krebsimmuntherapie als Hoffnungsträger der Medizin, vor allem bei schwarzem Haut- und Lungenkrebs. Mit ihr ist es vermehrt gelungen, die menschliche Abwehr gegen bösartige Zellen zu stärken, die sich vor dem Immunsystem „verstecken“. Für viele Patienten bedeuteten die modernen Medikamente eine Lebensverlängerung. Der jetzt Beschuldigte, Fachapotheker für Onkologie, war sich dessen offenbar bewusst: Er habe Respekt, äußerte er 2014, das sei er „dem Patienten schuldig“.

Wenn stimmt, was die Staatsanwaltschaft ihm nun vorwirft, hat der Mann nicht nur die Patienten betrogen, sondern auch die Krankenkassen um 2,5 Millionen Euro geprellt. Er soll die volle Menge an Arzneimitteln abgerechnet haben, obwohl er nur einen Teil eingekauft hatte. Für die Ermittler, die Apotheke und Privaträume des Beschuldigten am Dienstag gemeinsam mit einer Amtsapothekerin durchsuchten, ist das gewerbsmäßiger Abrechnungsbetrug sowie ein Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz.

Zudem wird dem 46-Jährigen vorgeworfen, „die Regeln der Hygiene missachtet zu haben“. Gerade wegen der hohen Anforderungen, die etwa einen Reinraum und Schutzkleidung verlangen, bietet weniger als ein Prozent der Apotheken in Deutschland die Krebsmedikamente an. Es gebe nur wenige Pharmazeuten, erklärt Apotheker Florian Mies, die auf die Zubereitung der Infusionen spezialisiert seien und die nötigen Labore unterhielten. „Das rechnet sich nur“, bestätigt ein Berufskollege, „wenn man viele Abnehmer hat, viele Ärzte und viele Krankenhäuser.“ Die fragliche Apotheke in Bottrop, sagt Onkologe Pott, besitze Zertifikate für ihren speziellen Service, müsse Qualitätskontrollen durchlaufen haben. Nach eigenen Angaben belieferte sie Praxen und Kliniken im Ruhrgebiet, in Düsseldorf und bis an den Niederrhein.

Apotheker aus dem Revier äußerten sich entsetzt. „Falls da bewusst geschlampt worden wäre“, sagt Florian Mies in Bottrop: „unglaublich.“ Kriminelle Geschäfte „auf Kosten der Patienten“, das verschlage ihm die Sprache, sagt Felix Tenbieg, Sprecher der Apothekerkammer Dortmund. Das sei „viel schlimmer“ als Abrechnungsbetrug, „da geht es nicht mehr um Geld, da geht es um Menschen“.

Das sieht auch Eugen Brysch, Deutschlands oberster Patientenschützer, so: „Die Staatsanwaltschaft muss schnellstens aufklären, welche Patienten gestreckte Medikamente erhalten haben.“ Das Schweigen des Apothekers, so Brysch, dürfe den Opferschutz nicht behindern.


INFO: Bei Medikamenten zur Krebsimmuntherapie wird die Wirkstoffmenge genau auf Größe und Gewicht des Patienten abgestimmt.

Die Pharmaindustrie liefert lediglich die Wirkstoffe, die Herstellung der Medikamente übernehmen wenige Apotheken. Dort werden bis zu 50 Wirkstoffe verarbeitet. Kochsalz- oder Glucoselösungen dienen als Träger.