Sechs Jahre nach den Anschlägen vom 11. September zeigt sich noch einmal, wieviele Querverbindungen Al Kaidas im Ruhrgebiet existierten. Und ein kleiner Junge aus Essen hörte, was er nicht hören sollte

Der Terror, er hauste mitten im Ruhrgebiet. Er schlüpfte unter im studentischen Milieu Bochums, er verschanzte sich hinter den kleinbürgerlichen Fassaden des Essener Stadtteils Holsterhausen, und er machte in der Duisburger Kappenstraße Nr. 14 auf harmlos, während er wie in einem zweiten Leben beim meistgesuchten Terroristen der Welt ein und aus ging, bei Osama bin Laden, quasi zur Familie gehörend.

Man kann sich die Situation in der Essener Kindertagesstätte gut vorstellen. Es ist Montag, der 10. September 2001, es ist 24 Stunden vor jenem Tag, der die Welt veränderte. Ein kleiner arabisch-stämmiger Junge, fünf Jahre ist er gerade, erzählt seiner Erzieherin eine ihr abstrus erscheinende Geschichte. In der Moschee hätte er am Vortag Männer belauscht, die von einem Flugzeug gesprochen hätten, das in ein hohes Haus fliegen werde. Viele Menschen würden dabei sterben. Eine Geschichte wie aus einem Katastrophenfilm. Nichts, was man glauben mochte, nichts, was glaubhaft erschien, selbst in jenem Moment, als es geschah.

Und doch, im Rückblick auf die Terroranschläge vom 11. September zeigt sich, wie nah vor unserer Haustür sich die Vorbereitungen für das Unfassbare abspielten. Die Geschichte des kleinen Essener Jungen macht noch einmal die vielen Querverbindungen deutlich. Denn die Essener Moschee, in der das Gespräch der Mitwisser stattfand, spielt später noch bei anderen Ermittlungen eine Rolle. Auch Abu Dhess, der damals 37-Jährige, ist hier ein häufig gesehener Gast. Abu Dhess, der Ende 2003 vom Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte Terrorist und Kopf der Essener Al Tawhid-Zelle, die Sprengstoffanschläge gegen jüdische Einrichtungen plante. Längst jedoch waren sie im Visier der Fahnder des Bundeskriminalamtes. Als ihre Pläne im April 2002 ernst zu werden drohen, lassen die Ermittler die Zelle auffliegen. Sie hatten belauscht, was Abu Dhess in einem Telefonat anbot: "Wenn Du mir den Tod befiehlst, dann töte ich."

Schläfer eben. Gotteskrieger, die auf ihren Einsatz warteten. In Bochum harrt Ziad Jarrah aus, verbandelt mit einer Medizinstudentin. Ein smarter, westlich wirkender Typ, der Flugzeugbau studiert hatte. Ziad Jarrah gehört wie Mohammed Atta zu den Todespiloten des 11. September, flog die United Airlines Flug 93, die auf das Weiße Haus oder das Kapitol gelenkt werden sollte und dann über Pennsylvania abstürzte.

Rekrutiert wird Jarrah in einer Wohnung im Duisburger Stadtteil Hochfeld. Der Mauretanier Ould Slahi, der ihn für den Terror erwärmt, gilt als Chefrekrutierer Al Kaidas in Deutschland. Ein hagerer, leger gekleideter Mann, wie der "Stern" schreibt, stets freundlich und hilfsbereit. Am Fraunhofer-Institut der Mercator-Universität legt er sein Diplom in Elektrotechnik ab, hält sich aber immer wieder in Al Kaida-Lagern in Afghanistan auf. Nach Anschlägen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania, bei denen 224 Menschen sterben, werden Staatsschützer aufmerksam auf ihn, dessen Duisburger Ex- und Importfirma mit Geldern arbeitet, die Fahnder einem ranghohen Berater bin Ladens zuschreiben. Ould Slahi kehrt schließlich nach Mauretanien zurück, wo ihn die Polizei festnimmt und an die USA ausliefert. Einer von vielen Häftlingen auf Guantanamo. Slahi soll weitgehend geständig sein.

Und noch einer hatte sich sich von dem Mauretanier mitreißen lassen. Er heißt Christian Ganczarski, stammt aus dem polnischen Gleiwitz und wuchs in Mülheim auf. Ganczarski ist vom Katholizismus zum Islam übergetreten.

Zwei Stunden vor dem Anschlag auf der tunesischen Ferieninsel Djerba am 11. April 2002 soll er mit dem Selbstmord-Attentäter dort telefoniert haben. Das Gespräch wird von deutschen Sicherheitsbehörden abgehört. In dem Telefonat sucht der Attentäter den Segen Ganczarskis. "Ich brauche nur den Befehl. Vergiss nicht, für mich zu beten." 77 Minuten später explodiert vor der Synagoge La Ghriba ein Tanklastwagen mit 5000 Litern Flüssiggas. 21 Menschen werden getötet, daunter 14 Deutsche.

Ganczarski soll in einem Lager in Afghanistan ausgebildet worden sein, gilt als Kurier und Computer-Spezialist der Al Kaida und soll deren Chef bin Laden gar mit Insulin versorgt haben. 2003 wird Ganczarski in Frankreich festgenommen, sitzt im Pariser Sicherheitsgefängnis Fresnes.

Vier Männer, die direkt oder indirekt mit dem Terroranschlag des 11. September zu tun hatten. Vier Männer von vielen, die im Multikulti des Ruhrgebiets untertauchten, ihre grausame Arbeit erledigten. Denen man begegnete, auf der Straße, an der Universität oder eben in der Moschee. So wie der Junge aus der Essener Kindertagesstätte.