Witten. .
Rafia sagt nicht „wie bitte?“, sie ist zu verblüfft. „Hä!?“, was war das denn für eine Frage? Aus sehr großen Augen blickt die Siebenjährige über ihren Spaghetti-Berg. Warum wohl soll sie zu den Ruhrtal-Engeln gehen, jeden Mittag, wenn die Schule aus ist? „Weil die für uns Essen kochen.“
Ende der Durchsage, die Gabel steckt schon wieder in den Nudeln, Rafias Nase auch. Mit vollem Mund spricht man natürlich nicht, aber das ist nicht der ganze Grund, warum das Mädchen mehr nicht sagt. Die ganze Wahrheit wäre wahrscheinlich: Zuhause kocht mittags keiner. Zuhause wartet auch niemand. Außer Rafia: „Manchmal bis vier Uhr“, bis die Mama nach Hause kommt.
Bei den Ruhrtal-Engeln in Witten aber wartet Peter. Peter, der ein bisschen aussieht wie der Weihnachtsmann, nur ohne roten Mantel. Und Ulla, 76, die so wunderbare „Sößchen“ macht, findet Peter. Peter Skotarzik, der sagt: „Was nutzen einem kleinen Mädchen schicke Stiefel und zehn Euro am Tag, wenn zuhause keiner ist? Es ist einsam! Es möchte auch gefragt werden, wie’s in der Schule war.“
Deshalb heißt der Mittagstisch des Vereins nicht „Tafel“ oder, schlimmer noch: „Suppenküche“. „Blödsinnsnamen“ sind das für Skotarzik, er will keine Stigmatisierung. Manche sind zwar finanziell bedürftig. Die Hartz IV-Kinder, die Aufstocker, die Geringverdiener, die alleinerziehenden Mütter. . . Skotarzik zählt auf und verdreht die Augen: „Da muss man Angst kriegen, die sind alle arm.“ Aber er benutzt das Wort nicht gern. Wer zu ihm kommt, ist „bedürftig“, braucht Zuneigung, Zuwendung, Zeit. Neulich ist es trotzdem passiert, da berichtete das Fernsehen über die „Ruhrtal-Engel“, und seitdem sind zwei der kleinen Gäste nicht mehr da: „Zur Armenküche“, haben die Eltern gesagt, „schicke ich meine Kinder nicht.“
Die Engel aber, Ehrenamtliche allesamt, fragen seit sieben Jahren nicht danach, warum wer am Tisch sitzt. Ob die Gäste Talia, Dilara, Evan heißen oder Leon, Florian, Fiona. Sie wissen, mancher Mitesser hat mit knurrendem Magen gewartet, dass endlich Mittag ist. Viele haben noch nicht gefrühstückt, „kein Hunger morgens“, behauptet David, aber ob das stimmt? Peter Skotarzik kennt Kinder aus Zeiten, als er einen Kiosk betrieb: „Die aßen vor der Schule eine Tüte Chips.“ Statt Frühstück.
Sie hatten den Jungen, der sich Riesenmengen auf den Teller lud – er brauchte ein Jahr, um zu lernen: Keiner nimmt ihm hier was weg. Zuhause galt „kein Essen“ als Strafe. Oder das Mädchen, das eifrig das Rührei rührte und später „meine Soße“ suchte: Es wusste gar nicht, was Rührei ist.
Milch und Servietten auf dem Tisch
Hände waschen!, hat Skotarzik eingeführt, er kontrolliert sogar die Fingernägel. Gerade sitzen, Füße nach vorn („wir sind hier nicht beim Ponyreiten“), und wer hereinkommt, sagt Guten Tag. „Die kriegen ja nichts vermittelt.“ Auf dem Tisch gibt es kein Plastik, dafür Wasser und Milch, „das Wichtigste sind die Servietten“, und man bleibt sitzen, bis alle fertig sind. „Die brauchen Ruhe beim Essen, das wissen die gar nicht.“
Manchmal wissen sie auch nicht, was sie essen. Wenn das Kochteam ahnt, es könnte kritisch sein, machen sie ein Geheimnis daraus. Oder behaupten: „Ist Justin Biebers Leibgericht.“ Dann essen Kinder alles. „Nur kein Tofu“, gesteht Rafia, „das mag ich nicht.“ Einmal in der Woche gibt es „Fast Food“, nur ohne „Fast“: Dann machen sie die Pizza selbst oder das Gyros. Es ist ja auch hier nicht anders: Lieblingsessen? „Pommes!“, rufen Lea und Rafia wie aus einem Mund. Wobei Peter Skotarzik sagt: „Die sind dankbar, wenn es lecker ist, sie wissen das zu schätzen.“
Bezahlen muss niemand. Der Verein sammelt Spenden, verkauft Trödel, wirbt auf Festen. Wenn es an etwas fehlt, dann sind es Menschen. Die helfen, kochen, spülen, den Kindern Zeit schenken. „Jeder muss wissen“, sagt Peter Skotarzik, „wofür er sich engagiert.“ Aber er weiß auch, was es bedeutet, sich um Kinder zu kümmern, „unten“ anzufangen, bei den Schwächsten der Gesellschaft. „Die Verantwortung ist eine ganz andere.“