Bochum.. Was die Autorin Joanne K. Rowling einst für Harry Potter als Zeitvertreib im Zauberinternat Hogwarts erdacht hat, gibt es mittlerweile real. Immer mehr Menschen spielen Quidditch. Muggle-Quidditch. Das größte Team Deutschlands ist an der Bochumer Ruhr-Universität zu Hause.
Man versteht nicht alles, was man sieht, aber man ahnt, was hier gespielt wird an diesem lauen Sommerabend auf dem Kleinfeld 2 der Bochumer Ruhr-Uni. Zumindest, wenn man mal ein Harry Potter-Buch gelesen oder einen Film über den Zauberlehrling geschaut hat. Mehr als ein Dutzend junge Männer und Frauen rennen mit Plastikstöcken zwischen den Beinen hin und her, rempeln sich an, werfen sich Bälle erst zu und dann durch einen von drei großen, vertikal stehenden Ringen an beiden Enden des Kunstrasenplatzes. „Quidditch“, bestätigt einer, der gerade kurz am Spielfeldrand verschnauft. „Das ist Quidditch.“
Na ja, nicht ganz, denn: „Natürlich können wir nicht fliegen“, sagt Theresa Raulf, die in Bochum Theaterwissenschaft und Germanistik studiert. Deswegen heißt das Spiel auch Muggel-Quidditch, also Quidditch für Menschen ohne Zauberkräfte. Eine Gruppe, die ja bekanntlich den größten Teil der Weltbevölkerung ausmacht. „Aber Spaß“, sagt die 21-Jährige, die auch für das deutsche Quidditch-Nationalteam antritt, „macht es trotzdem.“
Ruhr Bochum Phoenix, wie das Team der Uni heißt, ist nicht allein in Deutschland, erst recht nicht auf der Welt. Erfunden wurde Quidditch vor elf Jahren von zwei Studenten in den USA, mit besonderer Liebe gepflegt wird es in England und mittlerweile gibt es nach Zählung der International Quidditch Association (IQA) über 300 Mannschaften in 20 Ländern. Einfach drauflos zu spielen, geht da natürlich längst nicht mehr. Was Potter-Autorin Joanne K. Rowling in ihren Büchern nur rudimentär skizzierte, ist deshalb zu einem Regelwerk von über 200 Seiten geworden. „Und dabei ist es längst noch nicht fertig“, sagt Niklas Müller.
Müller kennt jede Regel, er hat das Spiel in Heidelberg kennengelernt und Ende 2015 nach Bochum gebracht. Dort trainiert der Mathestudent das Team, das mit über 50 Mitgliedern als derzeit größte Mannschaft Deutschlands gilt. Er trainiert es so gut, dass die Uni in diesem Jahr auf Anhieb den dritten Platz bei den deutschen Meisterschaften holte.
Und er kann das Spiel auch in Kurzversion erklären. Es gibt sieben Spieler pro Team mit unterschiedlichen Aufgaben und verschiedene Sorten von Bällen. Der „Quaffle“ wird mit einer Hand gepasst, und wer ihn durch einen der Ringe wirft, bekommt zehn Punkte. Die so genannten „Bludgers“ dienen dazu, gegnerische Spieler abzuwerfen und kurzfristig aus dem Spiel zu nehmen.
Mittlerweile sind genau 18 Minuten gespielt, da kommt der „Goldene Schnatz“ ins Spiel. Doch was in der Zauberwelt Hogwarts eine kleine wieselflinke goldene Kugel mit Flügeln ist, ist in der Muggel-Version ein – meist kräftiger gebauter – teamunabhängiger junger Mann, dem ein Tennisball in einer Socke aus der Hosentasche baumelt. Wer ihn fängt und die Socke erbeutet, bekommt 30 Punkte und beendet das Spiel. Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn der Schnatz darf sich nicht nur wehren, sondern auch das Weite suchen. Früher durfte er sogar den Bus nehmen und verschwinden. Was das Spiel verlagerte und verlängerte und deshalb auf Dauer „nicht praktikabel war“, wie Müller erklärt. Deshalb muss der Schnatz nun in Sichtweite bleiben. Fahrradfahren und mit einer Wasserpistole spritzen bleiben aber weiterhin erlaubt
Doch selbst mit angepasstem Reglement gibt es immer noch mitleidige Blicke von zufällig vorbeikommenden Passanten. „Viele nehmen uns nicht wirklich ernst“, weiß Theresa. „Dabei ist das definitiv Sport, was wir hier machen.“ Und zwar keiner für Weicheier. Gespielt wird bei jedem Wetter und weitgehend ohne Rücksicht auf Gegner und eigene Gesundheit. Zwar haben die meisten Teams die anfangs genutzten Besen wegen zu hoher Verletzungsgefahr gegen Plastikstöcke getauscht, aber Vollkörperkontakt ist nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht
Gespielt wird bei jedem Wetter und mit harten Bandagen
Was beim Fußball sofort zu Platzverweis und Sperre führen würde, bleibt beim Quidditch meist straf-, aber nicht immer folgenlos. „Am letzten Wochenende hatten wir wieder ein kaputtes Knie und eine gebrochene Nase“, erinnert sich Phoenix-Spieler Lukas (24) in der Pause. Blaue Flecken und Abschürfungen zählt sie gar nicht mehr in Bochum. „Ich habe lange Handball gespielt“, sagt Theresa. „Quidditch ist härter.“
Trotzdem wird das Spiel an der Ruhr-Uni immer beliebter. „Fast jede Woche kommen ein paar Neue. Und von denen ist längst nicht jeder Harry-Potter-Fan“, erzählt Niklas. Wahrscheinlich, versucht Theresa das Interesse zu erklären, liege es an der „tollen Gemeinschaft“. Nicht nur innerhalb des eigenen Teams, sondern auch gegenüber anderen Mannschaften. Oder daran, dass Männer und Frauen zusammen spielen. „Man kommt sich“, hat sie festgestellt, „jedenfalls schnell näher bei diesem Spiel.“