Ruhrgebiet. . Wir bedanken uns herzlich bei allen Lesern, die so viele schöne Geschichten zum Thema Nächstenliebe eingesandt haben. Wir präsentieren eine Auswahl.

So ein Tag, so wunderschön wie heute

Hannelore war die Freundin meiner Schwester und somit auch mir vertraut. Ich hatte sie lange nicht gesehen und war überrascht, eine Einladung zu ihrem 70. Geburtstag zu erhalten. Es waren viele Leute da und Hannelore wünschte sich ein Lied: „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Doch ich hatte einen Kloß im Hals und brachte keinen Ton heraus, denn Hannelore saß nun im Rollstuhl. Die Nachbarn aber hatten ihr ein großes kostbares Geschenk gemacht: Ein tägliches Mittagessen – und Besuche, wann immer sie wollte. So ging ihr größter Wunsch in Erfüllung – sie musste nicht ins Heim. „So ein Tag ...“ — Inge Hannesen, Duisburg

Ein unverhofftes Geschenk 

Seit zwölf Jahren arbeite ich ehrenamtlich in einem Krankenhaus in Duisburg-Fahrn. Gleich nebenan befindet sich ein Seniorenheim, vor acht Jahren war ich dort das erste Mal eingeladen zur Weihnachtsfeier. Nie werde ich vergessen, wie die alten Herrschaften sich in der Lobby versammelten und dem Klavier, der Gitarre, der Geige lauschten. Einige weinten, andere sangen mit, hielten sich bei den Händen und nickten glücklich. Kurz – es war eine unwahrscheinlich rührende Sache.

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Nach dem Essen bekamen wir Grüne Damen einen wunderschönen Christstern geschenkt. Und als ich schon nach Hause gehen wollte, kam eine Kollegin auf mich zu. „Ich möchte dir kurz eine alte Dame vorstellen“, sagte sie. „Ich betreue sie schon viele Jahre. Sie wird heute achtzig.“

Eine muntere Seniorin im Rollstuhl kam auf uns zu, ich gratulierte ihr ganz herzlich. Da lachte sie glücklich. „Meine Güte, Sie kennen mich ja gerade erst, und da haben Sie mir zum Geburtstag schon so einen wunderbaren Christstern mitgebracht.“ Mit Schwung nahm sie mir die Blume aus den Händen – „Den stelle ich sofort auf die Fensterbank“ – drehte ihren Rollstuhl um und fuhr davon.

Meine Kollegin hielt sich die Hand vor den Mund und sah weg. Sie platzte fast vor Lachen. „Tut mir ja so leid“, brachte sie mühsam heraus.“ — Hannelore Sartingen, Essen

Die größte Gabe 

Man hatte eine schwere Lebererkrankung bei mir festgestellt, immer wieder fiel ich ins Koma. Bei meiner Entlassung am 23. Dezember 2000 sagten die Ärzte meinen Töchtern: „Feiern sie noch einmal Weihnachten mit ihrer Mutter, denn es ist das letzte Mal. Sie wird Silvester nicht überleben.“ Eine schreckliche Nachricht für meine Töchter, die erst 16 und 19 Jahre alt waren.

So saßen wir Weihnachten zusammen. Am Abend des 27. Dezembers um 19.10 Uhr – wir wollten gerade am Computer „Wer wird Millionär“ spielen – da schellte das Telefon. Es war die Uniklinik Bonn. In dieser Nacht wurde ich zehn Stunden lang transplantiert. Bis heute geht es mir nur gut.

Über meine Arbeit für den Verein „Lebertransplantierte Deutschland“ weiß ich, dass meine Spenderin Weihnachten 2000 ganz plötzlich am Hirntod verstorben war. In dieser schrecklichen Situation waren ihre Angehörigen bereit, die Organe zur Spende freizugeben, um anderen Menschen das Leben zu retten. Das ist für mich das größte Zeichen der Nächstenliebe. Jedes Jahr zünde ich in der Kirche Kerzen an, um ihnen und meiner unbekannten Spenderin zu danken. — Moni Kuhlen, Essen

Ein Strauß Blumen von denen, die nichts haben 

Es klopfte, langsam öffnete sich die Tür. Erst einmal sah ich nichts, dann entdeckte ich einen riesengroßen Blumenstrauß und dahinter ein kleines Lächeln. Das Mädchen kam schüchtern in mein Büro der Flüchtlingshilfe Dortmund und stand plötzlich vor mir. Ihre Eltern sagten einige Worte zu ihr, sie kam näher und überreichte mir einen wunderschönen Strauß Blumen. Ganz schnell flüchtete das syrische Mädchen wieder in die Arme ihrer Eltern zurück.

„Vielen Dank“, sagten sie leise.

„Aber, das kann ich doch nicht annehmen. Sie haben doch nichts.“

„Es kommt aus dem Herzen, bitte nehmen Sie ihn an. Sie erfreuen uns damit.“

Sie lächelten und schlossen die Tür wieder hinter sich. — Christiane Weber, Dortmund

Die Reparatur 

In der Vorweihnachtszeit vor einigen Jahren klingelte mein Telefon. Ein älterer Herr beauftragte mich, sein Fernsehgerät zu reparieren. Im Rollstuhl öffnete er mir die Tür. Während ich mich um das Gerät kümmerte, erzählte mir der Herr von früheren Zeiten. Er war froh, mit jemandem sprechen zu können. Zum Abschied wünschte ich ihm alles Gute.

Am Heiligen Abend klingelte wieder das Telefon. Wieder war es der alte Mann. Er fragte mich, ob ich ein wenig Zeit hätte, ihn zu besuchen. 50 Euro würde er mir für diesen Besuch geben, er wollte am Heiligen Abend nur mal mit jemandem sprechen. Ich ging zu ihm.

Wieder erzählte er mir von früheren Zeiten, zeigte mir Bilder aus seiner Jugend- und Soldatenzeit. Seine Frau war vor etlichen Jahren gestorben, Kinder hatte er keine. Er hatte überhaupt niemanden mehr. Ab und zu weinte er. Dieser Besuch ging auch mir sehr nahe.

Nach etwa einer Stunde reichte ich dem Herrn die Hand und wünschte ihm trotz allem ein frohes Weihnachtsfest. Die 50 Euro nahm ich natürlich nicht an. Auch mir und meiner Familie wünschte er alles Gute, und ob er sich denn noch mal bei mir melden könne. Aber bis heute habe ich von diesem Herrn nichts mehr gehört. — Hermann Hüing, Gelsenkirchen

Von Kindern lernen 

Ben ist der Enkel meiner Nachbarin, sie erzählte mir diese Geschichte: Weihnachtsmarkt in Bochum. Bunte Lichter, Zuckerwatte, Paradiesäpfel, Popcorn, leuchtende Kinderaugen. Da ist noch der fliegende Weihnachtsmann, Ben hat mächtig Spaß. Wie wunderschön und sorglos doch alles ist. Es geht Richtung Kinderkarussell, denn Ben möchte unbedingt damit fahren, bevor er im nächsten Jahr ein ganz Großer ist. Doch plötzlich hält er inne und zupft aufgeregt am Ärmel seiner Großmutter. „Oma“, flüstert er. „Schau einmal.“

Vor ihnen liegt ein Mann auf der Straße, kaum zugedeckt, er friert schrecklich.

„Warum liegt denn der Mann hier“, fragt der Kleine? Alles läuft vorbei, hastig, peinlich berührte Blicke. Oma nimmt Ben in den Arm, sie sagt ihm: „Der Mann ist müde und hat kein warmes Zuhause, wie du es hast. Vielleicht hat er nicht einmal mehr eine Familie.“

Dieser Ausflug bleibt ruhig. Das Bild will nicht einfach so verschwinden. Deshalb wird daheim als erstes der Kleiderschrank geöffnet, warme Kleidung entnommen. Ein kurzer Anruf bei der Bahnhofsmission bestätigt: Winterkleidung fehlt. So wird eine weitere Fahrt geplant, um Freude zu bereiten, wo es selten welche gibt. Schön, das der kleine Ben mit seinen fünf Jahren sieht, was anderen wohl für immer verborgen bleibt. Für mich ist er heute schon ein ganz Großer. — Gudrun Wirbitzky, Bochum

Von Menschen, die einem wieder auf die Beine helfen 

Mülheim. Zum Thema Nächstenliebe kann ich drei großartige Erfahrungen mitteilen: Unterwegs in der Stadt bin ich in den letzten Monaten dreimal gestürzt – ich bin 85 Jahre alt. Und jedes Mal „eilte“ mir jemand zu Hilfe, denn ich konnte alleine nicht mehr aufstehen. Es machte den Leuten einige Mühe, mich wieder auf die Beine zu stellen. Dann wollten mich meine Helfer zum Krankenhaus fahren, wegen einer blutenden Kopfwunde, oder mich zum Arzt bringen oder nach Hause begleiten! Sie sorgten sich wirklich um mich. In allem Unglück fühlte ich mich beschenkt und bin dankbar, dass es solche Menschen gibt. — H. Heinemann, Mülheim

Der unbekannte Wohltäter 

Ich bin 1954 in Ratibor in Oberschlesien geboren. Die Deutschen in Polen hatten nach dem Krieg einen ungeheuer schweren Stand. Um so mehr freute sich meine Familie über die „Care-Pakete“ des Deutschen Roten Kreuzes aus der Bundesrepublik. Als Absender auf „unseren“ Paketen stand der Name eines Arztes aus West-Berlin.

1963 stand meine erste heilige Kommunion bevor. Der Arzt fragte meine Mutter nach meinem Geschenkwunsch. Unser Wohltäter schickte meinen Eltern tatsächlich das Geld für ein Fahrrad. Da wir aber fast keine Möbel hatten, haben meine Eltern einen Esstisch, Stühle und Wohnzimmerschrank davon gekauft. Erst als Erwachsene habe ich davon erfahren.

Mit den Jahren besserte sich die Situation und die Pakete blieben aus. Als wir 1979 nach Essen ausgesiedelt sind, sind uns leider Adresse und Name des Mannes verloren gegangen. Heute lebt er bestimmt nicht mehr, ich aber erinnere mich noch heute an den Geschmack der gesalzenen Butter, des süßen Milchpulvers und des Dosenfleisches aus den Paketen. Für diese Hilfe bin ich heute noch unendlich dankbar. — Maria Tomczyk, Essen

Das Puppenhaus 

Es war im Winter des Jahres 1945. Meine Eltern und ich beschlossen, ein Puppenhaus zu bauen. Gedacht hatten wir eigentlich daran, es auf dem Weihnachtsmarkt nach dem Krieg in der Nordhalle von Dresden auszustellen und eventuell zu verkaufen. In unserem Schuppen lagerten Holzreste, Werkzeuge zum Basteln waren auch vorhanden. Die groben Sägearbeiten erledigten wir im Schuppen, der Ausbau und die feinen Arbeiten in der Wohnküche. Die Arbeiten wurden damals oft unterbrochen, es gab ja damals noch die Stromsperre. Und gute Beleuchtung brauchten zum Arbeiten besonders meine Mutter und eine Nachbarin, die Kissen, Betten und Gardinen nähten.

Während des Bauens kam uns der Gedanke, das Puppenhaus doch nicht zu verkaufen, sondern zu verschenken. Dabei dachten wir an unsere Mitbewohnerin, eine Kriegerwitwe mit vier kleinen Töchtern.

Eines Tages stand deren Älteste in unserer Wohnküche und fragte: „Für wen baut ihr das Puppenhaus?“ Wir erklärten ihr, wir bauten es für ein Mädchen in unserer Verwandtschaft. Mit traurigem Blick ging sie wieder weg.

Trotz manch unerwarteter Verzögerung bekamen wir das Puppenhaus zu Weihnachten fertig. Am Heiligen Abend trugen wir es gemeinsam in die Wohnung unserer Nachbarin und deren Töchter. Dabei flossen nicht nur bei den Beschenkten Tränen der Freude, auch wir Erwachsenen nahmen daran teil.

Bei einem Besuch in Dresden traf ich mich kürzlich mit der Ältesten der vier Geschwister. Dabei erfuhr ich von ihr, dass das Puppenhaus noch immer gehütet werde. Ihr Mann habe die Beleuchtung modernisiert, und in den vergangenen Jahren hätten auch die Jungen der Familie damit gespielt. — Hans Burckhardt, Essen

Ein Engel erscheint im Ostseebad 

„Auf der Hunderunde hat sie mich gefunden. An einem kühlen, sonnigen Herbstsonntag in Bad Heiligendamm. Sie dachte, ich sei betrunken, ging weiter, doch schnell besann sie sich. Sie pflückte mich vorsichtig von der Laterne ab, an der ich in letzter Sekunde Halt gefunden hatte. Vorübergehende Amnesie. .. Ich wusste plötzlich nicht mehr, dass ich den Weg zur berühmten Schmalspurbahn „Molly“ eingeschlagen hatte, ich hielt die Laterne umklammert, um nicht umzufallen.

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Die Dame hakte mich unter und ging mit mir langsam und behutsam weiter die Strandpromenade entlang. Gesprochen habe ich wohl nichts Nachvollziehbares. „Wir gehen jetzt erst mal eine Tasse Tee oder Kaffee trinken, und dann erzählen sie mir alles!“ tröstete sie mich; das war er einzige Satz, den ich gehört und verstanden habe: Ich fühlte mich beruhigt und am Arm der Dame gut aufgehoben. Ich nickte dankbar und mein Kopf versank wieder im Nichts. Schließlich fand ich mich wieder vor einer duftenden Tasse Tee, bewacht von einem entzückenden kleinen weißen Terrier - im Altenpflegeheim! Bloß nicht dableiben! Ich war doch erst 62 Jahre alt, damals, vor zwei Jahren. Man hatte mein Portemonnaie durchstöbert, meine Personalien ermittelt sowie den Ort, an dem ich meine Reha absolvierte.

Bis die Rettungskräfte kamen, harrte die Dame mit ihrem Hund bei mir aus. Gerade konnte ich sie noch bitten, mir ihre Adresse aufzuschreiben, so dass ich ihr später danken konnte. Ich erfuhr so, dass Christa drei Stunden für mich geopfert hatte, trotz eigener Schmerzen am Fuß, dass ihr Mann sich Sorgen gemacht und sie anschließend von dem Heim abgeholt hatte. Mein „Verstand“ kam erst beim Aufnahmegespräch in der Klinik zurück - nach etwa vier Stunden. Ich war froh und glücklich, dass Christa sich meiner erbarmt hat. Ohne sie wäre ich verloren gewesen in einem fast menschenleeren Ostseebad. — Renate Wendt- Brockhaus, Bochum

Eine Herberge zur Weihnacht 

Es war am Nachmittag des 22. Dezember 2001, als wir, meine 14-jährige Tochter, mein Mann und ich, uns mit dem Auto aufmachten, um zu unseren Verwandten nach Baden-Württemberg zu fahren. In Bochum holten wir eine vietnamesische Studentin ab, die Weihnachten in einer deutschen Familie verbringen wollte. Aber es kam dann anders, als geplant. Wir waren kaum auf der Autobahn und nahmen die erste Steigung der A45, da begegneten uns die ersten Flocken. Binnen kürzester Zeit setzte, viel früher als angekündigt, heftiger Schneefall ein. Es war bereits neun Uhr abends, als uns der Gedanke kam, dass wir so nicht mehr heute in Süddeutschland ankommen würden. So krochen wir noch bis zur nächsten Ausfahrt, um uns ein Hotelzimmer zu nehmen.

Das Gasthaus im nächsten Ort war schon bis auf den letzten Winkel überbelegt! Guter Rat war auch für teuer nicht zu haben. Man telefonierte mit umliegenden Gasthäusern, aber es war nichts zu machen. Da trat aus dem Gastraum ein junges Paar zur Theke und sprach uns an. Sie boten uns an, bei ihnen zu übernachten. Ihr achtjähriger Sohn würde heute bei einem Freund schlafen und sie hätten eigentlich nur noch gemütlich ein Bierchen trinken wollen. Aber nun, schließlich sei ja Weihnachten!

Und so kam es, dass wir bei wildfremden Leuten eine Herberge fanden im Kinderzimmer und Gästezimmer und am anderen Morgen gemeinsam frühstückten, vor dem Haus Schnee schippten und die Mädels draußen im Schnee spielten. Für die neunzehnjährige Linh aus Vietnam war das ein noch unglaublicheres Erlebnis als für uns: die Berge von Neuschnee und die Gastfreundschaft. — Rolf Augenstein, Marl

Der mitfühlende Busfahrer 

Es war im Januar 2012. Die Straßen waren trotz des Winters schneefrei, so dass ich mit meiner Vespa und dem Geigenkasten auf dem Rücken von Bergerhausen nach Bredeney zu einer Kammermusikprobe gefahren bin. Am Stadtwaldplatz war, von mir unbemerkt, ein Teil des Bodens gefroren; ich stürzte. Autofahrer hielten sofort und boten Hilfe an. Mir selber und auch der Geige war aber Gott sei Dank nichts passiert. Der Roller hatte jedoch seinen Geist aufgegeben, und ich musste mit dem Bus weiterfahren. Auf den Busfahrer muss ich solch einen niedergeschlagenen Eindruck gemacht haben, als ich ihm die Geschichte erzählte, dass er mich ohne Fahrschein bis zur Endstation mitgenommen hat. Ich denke immer noch mit großer Dankbarkeit daran zurück. — Siegfried Engelsiepen, Essen

Eine Übung in Geduld und Demut 

Es ist so schön dunkel. Nur die Lichter der Stadt bemühen sich nach oben durch mein Fenster im 5. Stock und werfen von weit unten graues Licht an die Decke. Der Nachbar schnarcht leise. Es liegt nicht an ihm, dass ich nicht schlafen kann. Wer den ganzen Tag im Bett liegt, schläft nachts schlecht. Oder gar nicht. Aber es ist nicht schlimm. Mir tut nichts weh, wenn ich so liege. Darüber bin ich froh. Das ist ein Privileg in diesem Haus.

Auf meinem Zimmer liegt noch Andreas. Lustiger Kerl. Haut wie Teig. Ihm hat das Wasser bis zum Hals gestanden. Fast. Er wäre beinahe in sich selbst ertrunken. Sein Herz arbeitet nicht richtig. Was es nicht alles gibt. Dass er erst so spät eingeliefert wurde, lag daran, dass er nicht versichert war. Er traute sich nicht, dachte, er müsse die Behandlung selber zahlen. Und weil er kein Geld hatte, müssten das seine Eltern übernehmen. Die zahlen ja eh alles und haben selbst nicht viel. Er wohnt noch zu Hause, liegt ihnen auf der Tasche.

Andreas ist Großhandelskaufmann. Hat Pech gehabt: Nach der Lehre wurde er nicht übernommen, dann Arbeitslosigkeit, Umschulung, neue Chance, Firmenpleite. Nach 237 Bewerbungen hatte er aufgegeben. Einbahnstraße abwärts. Seine Eltern lieben ihn. Er sie auch, mit viel Scham. Das merkt man, wenn sie ihn besuchen. Und er ist zweiunddreißig. Netter Kerl, kennt sich gut aus mit Kabarett und Filmen. Hat sich nicht wieder gemeldet bei der Agentur für Arbeit.

Einmal hat er den ganzen Tag kein Essen bekommen, weil er zu einer Untersuchung musste, die dann aber auf den nächsten Tag verschoben worden war. Er sagte, er habe Hunger, traute sich aber nicht nachzufragen. Ich klingelte, erklärte und klingelte noch einmal. Dann bekam er sein Essen. Er sagte danke, ohne mich anzusehen. Dann aß er, drehte sich in seinem Bett zur Seite und weinte. Armer Kerl.

Ich möchte jetzt einschlafen. Genug Melancholie genossen. Möchte nicht, dass sie umkippt, in tintenschwarze Traurigkeit. Oder noch schlimmer, in Angst. Im Krankenhaus ist es ganz superleicht Angst zu bekommen. Da muss man sich gar nicht anstrengen und schon hat man sie im Kopf. Jeder eine für sich. Meine heißt: Amputation. Ist zwar nur eine dicke, heiß-rote Entzündung im Fuß, aber das Wort ist im Kopf, kam gleich bei der Einlieferung, quasi mitgeliefert: Amputation. Ist hartnäckig, schwer zu vertreiben, gerade nachts. Aber geht schon wieder. Muss. - Mach dich nicht verrückt -, sag ich mir dann immer. Eine Übung in Geduld und Demut. — Winfried Thamm, Essen

Ein Stück Butter 

An einem Herbstmorgen im Jahr 1946 spielte ich mit meiner Puppenstube in der Küche. Oma Hanna stand neben mir und spülte das Geschirr. Urplötzlich fiel sie um und lag ganz still auf dem Boden. In mir kroch Angst hoch, ich lief schreiend zu meiner Mutti, die im Schlafzimmer Wäsche faltete. Oma Hanna rührte sich nicht, ein Schlaganfall!

Oma Hanna hat später wieder ein wenig sprechen gelernt, aber jetzt lag sie still im Bett. Wenn ich sie streichelte, öffnete sie die Augen... Einmal in dieser Zeit hatte meine Mutter auf dem Dachboden Wäsche aufgehängt und die Wohnungstür aufstehen lassen. Als wir zurück in die Küche kamen, stand auf der Bettdecke meiner Großmutter eine kleine Schüssel mit einem Stück Butter darin.

Mutti wusste sofort, dass sie nur von Galas Mama, unserer Nachbarin, sein konnte. Sie ging zu ihr, bedankte sich und fragte: „Warum sorgen sie sich um meine Mutter? Und warum geben sie meiner Tochter Elke immer ein Butterbrot?“ – Die Frau antwortete: „Elke spielt mit Gala, Elke streichelt Gala, sie gibt Spielzeug. Du sagst, Gala kann in dein Haus kommen. Du gute Frau!“ Dann erzählte sie, auf welche Weise sie mit ihrer Familie nach Weimar gekommen war.

Deutsche Soldaten hatten die Ukraine besetzt und die Bevölkerung vertrieben. Die Leute konnten ein paar Sachen zusammenpacken und wurden zum Bahnhof gejagt, wo sie im tiefsten Winter in Viehwaggons steigen mussten. Der Zug fuhr ab, und niemand wusste wohin. Weil so viel Schnee lag, kam der Zug nur langsam vorwärts. Die Eiseskälte erfasste die Menschen. Galas Mutter hatte erst vor ein paar Wochen einen Jungen geboren. Sie wickelte ihn fest in ein Wolltuch und versuchte, ihn am Körper zu wärmen.

Dabei fror sie selbst entsetzlich. Durch die Angst und den Schrecken hatte sie plötzlich auch keine Milch mehr für das Kind. Es schrie und schrie, versuchte immer wieder, bei ihr zu trinken und bekam doch keinen Tropfen. Nach zwei oder drei Tagen wimmerte der Kleine nur noch. Dann war er still. Die Mutter hielt ihn weiter an sich gedrückt und wiegte ihn, obwohl sie längst begriffen hatte, dass das Kind tot war.

Der Zug hielt. Und die Frauen, deren Kinder gestorben waren, wurden aufgefordert auszusteigen und sie in den Schnee zu legen. Galas Mutter grub mit ihren kalten Fingern ein Loch und legte ihren Jungen hinein und deckte ihn mit viel weißem eiskalten Schnee zu. Dann fuhr der Zug weiter nach Weimar.

Meine Mutter erinnerte sich, wie Gala und ihre Eltern ins Haus kamen, dreckig, mit zerschlissener Kleidung. Das kleine Mädchen trug einen großen Strohhut auf dem Kopf. Gala legte sich im Hausflur in eine Ecke und war gleich eingeschlafen.

Ein paar Tage später hatte sich die Familie im „Russenmagazin“ neu eingekleidet. Dann stand Frau Schneider, sie wohnte unter uns, vor unserer Tür mit dem fremden Mädchen in der Hand und sagte: „Schau Elkchen, das ist Gala, die wohnt jetzt bei uns. Vielleicht könnt ihr zusammen spielen.“ Gala lächelte schüchtern, da griff ich nach ihrer Hand und zog sie in den Flur.

An einem Nachmittag spielten wir im Wohnzimmer mit Bauklötzen. Gala kroch vor mir her und ihr Rock rutschte hoch, ich sah einen nackten Po. Das musste ich meiner Mutter erzählen. Sie hat dann mit Galas Mutter gesprochen und ihr meine Schlüpfer gezeigt und gesagt, es sei doch kalt, und Gala sollte nicht freieren. Am nächsten Tag kam Gala strahlend mit sechs neuen Schlüpfern, die wir beide gebührend bewunderten.

Ein kleines deutsches Mädchen und ein kleines russisches Mädchen waren Freundinnen geworden. — Elke Brüggendieck, Bochum