Paris/Velbert.
Als es am Freitagabend im Café Bonne Bière in der Rue de la Fontaine au Roi mehrmals laut knallt, ist Vincent Nöthen nur wenige Meter entfernt. Der Erasmus-Student aus Velbert schaut zunächst in den Himmel. „Ich dachte, das sei ein Böller. Das war brutal laut“, sagt Vincent. Dann rennen er und seine Freunde los. Sekunden später treffen ihn zwei Kugeln, abgefeuert von den Terroristen. Der 23-Jährige ist einer von mehreren Hundert Verletzten nach der Terrorserie in Paris.
Der Abend hatte fröhlich angefangen. Gemeinsam mit zwei Freunden aus Deutschland und zwei Italienerinnen macht sich Vincent am frühen Abend auf den Weg zu einem iranischen Restaurant ganz in der Nähe des „Le Petit Cambodge“, eines kambodschanischen Lokals. Dort werden nur wenige Stunden später mindestens zwölf Menschen von Terroristen erschossen. Nach dem Essen zieht die Gruppe weiter. In der Udo-Bar gibt’s deutsche Currywurst, das möchte Vincent, der seit September an der Université Pierre et Marie Curie Ingenieurwesen studiert, seinen Freunden nicht vorenthalten.
Gespenstische Stimmungin der Stadt
Doch soweit kommt es nicht. Als Vincent auf seiner Flucht auf der Rue de la Fontaine au Roi stehen bleibt, um sich umzuschauen, knallt es wieder. Ein Schuss streift ihn am Rücken, ein zweiter hinter dem rechten Ohr. Er rennt weiter, rettet sich mit vielen anderen Menschen in eine Nebenstraße. Seine Freunde rufen einen Krankenwagen, mittlerweile blutet das rechte Ohr stark und auch die Wunde am Rücken brennt. „Wie Feuer“, sagt er. Ein Franzose, der bei ihnen steht, redet und redet. Schnell und kaum verständlich für die Erasmus-Studenten aus dem Ausland. „Ich dachte, er spricht von 15 Minuten. Dabei meinte er Tote, die er gesehen hat.“ Es sind bange Minuten bis die Sanitäter schließlich kommen. „Wir wussten ja nicht, ob die Terroristen wiederkommen.“
Im Krankenwagen machen die Sanitäter gerade das Nötigste, als es an der Tür klopft. Ein Mann fällt Vincent um den Hals. Er sei so dankbar, dass er noch lebe, sagt er immer wieder. Der Franzose blutet aus dem Bauch, erzählt, dass er gerade aus der Konzerthalle Bataclan fliehen konnte, als ihm ein Terrorist in den Bauch schoss. Drei Cousins seien dort noch gefangen. „Dieses Bild kriege ich nicht aus dem Kopf.“
Im Krankenhaus muss der deutsche Student warten. Im Minutentakt kommen Schwerverletzte, deren Behandlung dringender ist als seine. „Das war völlig surreal“, sagt er. Auf seinem Handy in der Jackentasche kommen Anrufe und Nachrichten von besorgten Freunden und seiner Familie an. Sie bleiben lange unbeantwortet. Viereinhalb Stunden bleibt er in der Klinik. Um drei Uhr nachts ruft der 23-Jährige seine Mutter zurück. „Es geht mir gut“, sagt er ihr. Sie kann nicht viel sagen, er auch nicht.
Die Ärzte schicken Vincent nach Hause, auf dem Rücken kleben Pflaster, hinter dem Ohr ebenfalls. Sie haben ihm Blut abgenommen. Er sitzt im Taxi und fährt los.
Es ist Samstagabend, als Vincent Nöthen sein Studentenwohnheim in der Cité Internationale Universitaire im 14. Arrondissement wieder verlässt um einzukaufen. Die Supermärkte haben geöffnet, alle anderen Läden sind zu. „Es ist eine gespenstische Stimmung“, sagt der Student. „Wir stehen alle unter Schock.“ In der Nacht zu Samstag hat er kaum geschlafen. Sein Wohnheim liegt direkt an der Stadtautobahn Périphérique. Bis in den Morgen hat er von dort die Polizeisirenen gehört, quietschende Reifen und aufheulende Motoren.
Zurück nach Deutschland möchte Vincent trotz der Ereignisse erst einmal nicht. „Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt über die Grenze kommen würde.“ Auf Facebook hat er sich am Samstagmorgen bei seinen Freunden gemeldet. Er postet ein Foto aus dem Krankenhaus. Es zeigt ihn mit nacktem Oberkörper und Verbänden. „Dem Himmel sei Dank, dass es dir gut geht“, schreibt eine Bekannte. „Ich kann das alles noch gar nicht fassen. Nur wenige Meter neben mir sind Menschen gestorben“, sagt Vincent, noch immer unter Schock. „Ich habe einfach Glück gehabt.“