Essen/Ruhrgebiet. . Das Mietshaus ist typisch fürs Revier: 1911 erbaut, ist es heute das Heim einer bunten Gemeinschaft, die wir bei einer Visite kennenlernen durften.

Irgendein Mietshaus im Revier, aber vielleicht ist es doch typisch für die Region: ein mehrfach ungebautes Gebäude von 1911, ein Paar, zwei Familien, eine Studentin und unten eine Hebammen-Praxis, so früher eine Gaststätte war. Unsere Reporterin Annika Fischer hat die Bewohner besucht, eine internationale Zufallsgemeinschaft im Zentrum von Esen-Steele.

Zur Großversion des Bildes

Die Geschichte des Hauses 

Unser Haus hat überlebt. Oder wenigstens: sein Erdgeschoss. Zwei Kriege und, schlimmer noch, die Bagger der vermeintlichen Moderne. Denn für Historiker und Stadtplaner ist Steele ein bekanntes Beispiel, wenn auch ein schlechtes: Der Ortsteil steht für die nach dem Wiederaufbau allerorten wütende Flächensanierung der Nachkriegszeit; hier im Essener Süden war es die wohl größte der Bundesrepublik.

haus1.jpg

Von „städtebaulicher Mode“ spricht der Essener Historiker Dr. Tim Schanetzky, es war ja damals „überall auf der Welt“ dasselbe: Als der nötigste Wiederaufbau erst einmal geschafft war, riss man in den 60er- und 70er-Jahren ab. Baute den Neubürgern Warenhäuser, Hochhäuser, Parkhäuser, trennte Wohnen und Gewerbe, ebnete dem Verkehr gewaltige Straßen. Das, so Schanetzky, „galt als schick“. Im Ruhrgebiet, weiß der Buchautor, der schon als Student Ende der 90er über Steeles Bausünden schrieb (siehe Kasten), sei solche „Sanierung“ besonders „gründlich und radikal“ gewesen. „Die Verachtung für das Gewachsene ist in der Region sehr stark.“ Und ein gewisser „Minderwertigkeitskomplex“ groß. Gelsenkirchen, Bergkamen, Herten, auch Mülheim – sie machten es ja alle.

Notorisch überlastete Stadtplaner

Essen aber, glaubt Schanetzky, war damit überfordert. Notorisch überlastet seien die Stadtplaner jener Epoche gewesen, sie werkelten damals zeitgleich an Autobahn 40 und 52, an Klinikum, Universität, U-Bahn- und Straßenbau. Um Steele, so Schanetzky, stritten sie, strickten aber dennoch am Sanierungsplan – „mit der heißen Nadel“. Und derweil die Umsetzung nur schleppend voranging, machte man schon mal dem Erdboden gleich, was im Wege stand. Jahrhunderte Altes, Fachwerk und Schnörkel, wackelige Treppen und Plumpsklos waren jedenfalls nicht modern. So fiel mehr als die Hälfte der Steeler Bausubstanz der Sanierung zum Opfer. Statt einer historischen Altstadt, ähnlich der Hattingens, gibt es heute breite Straßen, „absurde Hochhäuser“ und Kaufhauskomplexe. Was man heutzutage wieder hübsch und erhaltenswert findet: weitgehend weg.

Eine Milliarde Mark kostete der Umbau, dauerte deutlich länger als geplant, während viel Schönes verkam. „15 Jahre lang“, ab 1959 bis weit in die 70er-Jahre hinein, so Schanetzky, sei „in Steele nicht viel mehr passiert als abzureißen“. Was wie überall zu dem Phänomen führte: Menschen wanderten ab, die soziale Zusammensetzung veränderte sich „nicht zum Besseren“, viele Einwohner hatten aber auch gar keine Chance – 3500 Steelenser wurden damals zwangsumgesiedelt. Man habe „nie ästhetisch gedacht“, sagt Historiker Schanetzky, und „nie die Bürger gefragt“. Die lehnten sich zwar auf: „Steele ist eine Schutt- und Trümmerstadt“, schrieben die Kaufleute in einen Brandbrief, doch es nutzte nichts. Ein Plakat warb noch 1974 für die „Investor’s City Steele“.

Eine Milliarde Mark kostete der Umbau, den man heute bitter bedauert

Einzig eine Nord-Süd-Tangente wurde noch verhindert, „gottlob“, sagt Schanetzky. Womöglich hätte diese unser Wohnhaus, in einem Block mit einigen verbliebenen historischen Nachbarn, zumindest berührt. Doch auch das Gebäude in der Nähe des Grendplatzes blickt ja auf ein hässliches Parkhaus, ein Kind der Sanierung. Und selbst wurde es in den 60er-Jahren ebenfalls saniert, die obere Etage neu aufgesetzt, Betonboden eingezogen. Von „Fehlern, die Architekten in jener Zeit eben gemacht haben“, spricht der Vermieter.

Der ließ im vergangenen Jahrzehnt vieles erneut sanieren, baute Gasheizungen ein sowie neue Bäder. Und die Erdgeschoss-Fenster bekamen vor acht Jahren ihre runde Form zurück. Ein Rest Jugendstil.

Die Geschichte Steeles: 

steele.jpg

Bis zur Eingemeindung zur Stadt Essen im Jahre 1929 war Steele eine selbstständige Stadt an der Ruhr. Die Stadtrechte hatte es seit 1578. Seine Historie reicht zurück bis ins neunte Jahrhundert, erstmals wird der Ort 840 urkundlich erwähnt.


  • Was der Krieg dem Ort nicht antat, erledigten die Stadtplaner der 60er- und 70er-Jahre: Der Flächensanierung fielen ganze Straßenzüge mit vorindustriellen Fachwerkhäusern zum Opfer, auch weite Bereiche gründerzeitlicher Bebauung.

  • Der heutige Stadtteil Steele umfasst drei Quadratkilometer und hat rund 16 700 Einwohner.


  • Tim Schanetzky: Endstation Größenwahn. Die Geschichte der Stadtsanierung in Essen-Steele. Klartext-Verlag 2008, 252 S., 15,95 Euro.