Ruhrgebiet. .
Das Büdchen ist jetzt eine Bar. Und der Kunde wütend. Keine Kippen. „Ihr immer mit euren Cafés. Das war doch mal ‘ne Bude!“ Dabei ist die Bude sonst das, was bleibt im Ruhrgebiet. Jeder hat seine, die ihn begleitet von Klümpken bis Schnäpsken, jeder ein Gesicht dazu, das aus der Luke schaut, eingerahmt von Jugendschutz-Gesetz und roter Reklame für Eis am Stiel. Und in der Tonspur laufen Gespräche, die es nur hier gibt: „Wie isset? Muss.“
So ist das auch mit dem Büdchen; ob es nun Trinkhalle heißt oder Kiosk, tut nichts zur Sache. Es hält sich, zu immer noch mehr als 10 000 im Revier, steht standhaft gegen seine natürlichen Feinde: Supermärkte, die immer länger öffnen dürfen, Tankstellen, die auch alles haben. Mancher hat sich kleiner gesetzt, Tante Emma ist jetzt immer öfter Onkel Mehmet, aber Bude, Bier und Bonbondosen sind noch da. Nur Elli Altegoer ist weg, weshalb der Kunde von eben bei ihr keine Zigaretten mehr bekommt, aber das lag nun wirklich am Alter. Elli ist Mitte 70!
Bergmanns-Sohn verprasstedie Kirchen-Kollekte am Kiosk
Aber sie ist aus Bochum eben nicht wegzudenken, ebenso wenig wie das Büdchen an sich. „Anne Bude gehen, Zaretten holen, Pilsken trinken, Pläuschken halten“, so war das, so ist es geblieben. Die Trinkhalle ist im Wortsinn ein beiläufiger Ort. Ein paradoxer auch, aus der Zeit gefallen, einer, der dem Wandel widersteht. Der einzige, sagt Giampiero Piria, „wo es noch eine Geschäftssituation gibt auf Du und Du“. Piria ist in etwa so typisch für die Region wie die Bude, zu der er „Wallfahrten“ führt: Bochumer Sohn eines italienischen Bergmanns, der als Kind die Kollekte am Kiosk verprasste. „Für fünfzehn Pfennig kriegteste schon viel!“ Für ihn sind die Büdchen „Ikonen der regionalen Identität“.
Und der Alltagskultur, ungeschminkt, ehrlich, echt. Nischen an der Ecke, Mauern vorgebaute Verschläge, hübsche Häuschen auch, Architektur-schön. Drei Stufen rauf oder fünf runter. Zum x-ten Mal gestrichene Fassade oder alt gewordene Fliesen. „Wir sind gern für Sie da“, „Bitte Klingeln!“ oder „Praise the Lord“ auf Schilder gemalt – doch drinnen alle gleich. Meist nicht mehr als ein Kabuff, links in den Plastikkästen saure Pommes, salzige Heringe, süße Schnüre, weiße Mäuse. Hinten Seife und Soßenbinder, Hundefutter und Haarspray, Grillkohle und Erbsensuppe mit Einlage, alles noch mit aufgeklebtem Preisschild. Im Kühlschrank das Bier, in den selbstgeschraubten Schwerlastregalen der Schnaps und auf der Theke die Zeitung von heute.
Und was davon der Kunde braucht, muss er nicht einmal sagen: Das weiß der Chef. „Es ist wie eine Freundschaft“, sagt Hilmi Shuti in „Möps Büdchen“ in Bochum. „Wie immer?“ „Jau.“ Natürlich hat er immer alles da. Weshalb es auch Begegnungen gibt, die sich wie Freundschaft nicht anfühlen und trotzdem blindes Verständnis sind: „Geld passend, Ware passend, nicht ein Wort.“ Oder diese immer gleiche Szene, wie in einem Theaterstück: Kinder, die auf Zehenspitzen Bömskes in die Papiertüte zählen. „Für zehn Cent davon, für fünf Cent davon. . .“
Wassereis für zehn Pfennig, Trockennudeln ohne Geschmack
Einst gab es hier Wassereis für zehn Pfennig, heute kostet es 15 Cent, Brausetütchen und Kratzeis feiern fröhliche Urständ. Was neu ist: asiatische Trockennudeln in Tüten, geschmackloser Snack, aber das war das Esspapier ja auch. In den 50er-Jahren sollen Waffelbruch und Knickerwasser die Renner gewesen sein – wobei das Knicker- nichts anderes als Mineralwasser war: Vor der Erfindung des Schraubverschlusses hielt eine Kugel die Kohlensäure in der Flasche. In den 70ern kam der Negerkuss ins Brötchen, wenn dieser Begriff noch einmal erlaubt ist. Im neuen Jahrtausend bestellen die Leute Wodka, Kaugummi, Ü-Ei.
Und meistens wollen sie ein Wort. Neuigkeiten gibt es an der Bude nämlich auch, hier weiß man Bescheid über freie Wohnungen und vermisste Katzen, „wer verstorben ist, wer im Krankenhaus“, sagt Thomas vor Renates Kiosk in Wattenscheid. 40 Jahre kommt er hierher, wie Dirk und Michael, „da lebte die Omma noch, und es gab Knöterich, drei Stück für fünf Pfennig. Sind schon so’n paar Tage. . .“ Die Bude ist ein Raum zum Tachelesreden, ein Dorfplatz in der Großstadt, ein „Fluchtpunkt für die Volksseele“, hat mal jemand geschrieben. „Wir reden nicht übereinander, wir reden miteinander“, pflegte Elli Altegoer zu sagen. Aber geredet wird viel.
Lokale Versorgung und soziale Funktion in der Nachbarschaft
Nun ist Elli nicht mehr da, aber ihr altes Brotregal noch und das Publikum auch. Man kennt sich, man trifft sich, die Bude als Kummerkasten: läuft. „Lokale Versorgung und soziale Funktion in der Nachbarschaft“, sagen dazu Soziologen. Und meinen, dass eine wie Renate das ganze Viertel kennt, linksrum und rechtsrum, und das ganze Viertel sie. Dass Sivrie in Bochum einen Notstand sogleich erkannt hat: „Schlegel-Bier ist alle, aber Chef geht schon kaufen!“ Dass Rüdiger in Essen „Bei Mampf-Fred“ mit deutlichem Stolz auf die reiche Zeitschriften-Auslage zeigt: „Keine Bude ist so gut sortiert.“ (Dabei ist der 63-Jährige hier Kunde, nicht Besitzer.) Und dass Sasan am Folkwang-Museum ein so freundliches Gesicht hat, dass man einfach bleiben will, auf einen Früchtetee vielleicht zu „1€“.
Giampiero Piria – ein Bierchen pro Büdchen auf seiner Tour – hatte einst „die Idee, das ganze Ruhrgebiet in ein Kiosk-Museum zu verwandeln“. Noch wurde nichts draus, aber vielleicht ist es einfach noch zu früh. Die Bude lebt.