Ruhrgebiet. Die Jugendamtsleiter von Gelsenkirchen wehren sich gegen den Vorwurf des TV-Magazins “Monitor“, Kinder in Ungarn untergebracht zu haben.
Frank Baranowski ließ sich nichts anmerken. Als „Monitor“ die Vorwürfe gegen den Leiter des Gelsenkirchener Jugendamtes und dessen Vertreter ausstrahlt, da sitzt der Oberbürgermeister anscheinend entspannt in einer Premiere: Das „Musiktheater“ gibt „The Rat Pack“. Freilich nimmt Baranowskis Abend nach 22 Uhr deutlich Fahrt auf: Denn jetzt ist die Geschichte, von der er schon wusste, in der Welt. Am frühen Freitag stellt Baranowski als erstes die beiden Männer vom Dienst frei.
Sie sollen 2004 in Ungarn eine Firma namens „Neustart“ gegründet haben, in deren Heim zwischen 2005 und 2008 Kinder aus dem Gelsenkirchener St.-Josef-Heim vermittelt worden seien. 5500 Euro pro Kind und Monat soll der Staat dafür bezahlt haben. Und auch das zweite Beispiel des „Monitor“-Beitrags „Mit Kindern Kasse machen?“ spielt im Revier: Da geht es um einen „Paul“ (11), um den sich das Jugendamt Dorsten kümmert.
Stadt Dorsten gibt Rückendeckung
Er sei auf einem anderen ungarischen Hof „zwischen Schrott und Gerümpel“ untergebracht und werde kaum betreut und beschult. Dafür zahle das Jugendamt der „Life GmbH“ in Bochum fast 7000 Euro sowie 800 Euro für den wöchentlich vierstündigen Unterricht an der Internet-Schule, die auch noch der Tochter des Life-Inhabers gehöre.
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Am Wochenende wehren sich alle drei. Alfons Wissmann und Thomas Frings aus dem Jugendamt Gelsenkirchen und – unabhängig davon – Gerd Lichtenberger von der „Life Jugendhilfe“. Das ist keine Klitsche: Die Einrichtung hat bis zu ihrem 20. Geburtstag Ende 2013 fast 700 Projekte mit Kindern und Jugendlichen durchgeführt. Der 63-jährige Lichtenberger weist die Vorwürfe zurück und will sich heute detailliert in einem Interview äußern sowie in der SPD-Ratsfraktion, der er angehört.
Beistand erhält er schon mal von der Stadt Dorsten: Man arbeite seit vielen Jahren zusammen, „bisher ohne Anzeichen dafür, dass es seitens des Trägers beachtenswerte Mängel gibt“. Man werde jetzt einen Mitarbeiter nach Ungarn schicken, um die Sache zu prüfen; jemanden, der mit „Paul“ bisher nichts zu tun hatte.
Oft in Eins-zu-Eins-Betreuung
Und auch die Beschuldigten aus Gelsenkirchen halten dagegen. „Es ging uns bei ,Neustart’ darum, eine hochqualifizierte, hauptamtlich geführte intensivpädagogische Maßnahme anzubieten“, so der freigestellte Amtsleiter Alfons Wissmann: „Ich habe damit kein Geld gemacht.“ Die genehmigte Nebentätigkeit habe er im März 2005 zurückgegeben, aber auch mitgeteilt, dass er und Frings weiter Vermieter blieben. Später übertrug Wissmann seinen Gesellschafteranteil auf seine Frau, Frings auf seinen Bruder. 2009 sei „Neustart“ für symbolische 40 Cent verkauft worden, und da die noch bestehende Immobilie derzeit schwer verkäuflich sei, gerate er „eher ins Minus“.
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Stationäre Jugendhilfe im Ausland ist ein umstrittenes Thema. Ihre Verfechter – wie die Stadt Dorsten – argumentieren, man brauche für jeden Betroffenen ein passgenaues Angebot, das es manchmal in Deutschland nicht gebe. Für „Paul“ habe man vier Monate gesucht und sieben Absagen aus dem Inland bekommen. Andere betonen, eine völlig neue Umgebung könne die Entwicklung eines Kindes enorm fördern. Bei den Kosten gibt es zwischen In- und Ausland wohl nur geringe Unterschiede: Tagessätze zwischen 200 und 300 Euro gelten als normal, es gibt auch noch höhere – so kommen dann die beschriebenen 5500 oder 7800 Euro zusammen.
Das liegt vor allem an der intensiven Betreuung, oft im Verhältnis eines zu eins, und an den Kosten für Personal, das idealerweise hoch qualifiziert ist. Wissmann etwa gibt für „Neustart“ an, dass bei einer Belegung mit zwei Jugendlichen vier Fachkräfte beschäftigt gewesen seien sowie ein Handwerker.
Mehrere Ausschüsse treffen sich heute zu einer Sondersitzung
Nach Vorwurf und Widerspruch beginnt heute das nächste Kapitel. Es heißt Aufklärung. Gelsenkirchen hat die Aufsichtsbehörde um Hilfe gebeten, also den Landschaftsverband Westfalen-Lippe; auch ein Wirtschaftsprüfungsunternehmen soll sich der Sache annehmen. Am Montagnachmittag kommen Haupt-, Finanz-, Beteiligungs- und Personalauschuss zusammen, um über den Stand der Dinge informiert zu werden. Für die Bündnisgrünen ist der Fall so einzigartig, dass sie sogar einen Untersuchungsausschuss fordern – wohl wissend, dass die Gemeindeordnung so etwas gar nicht kennt.