Der Strukturwandel ist nicht beendet. Duisburg steht als Standort im Fokus der nächsten Runde. Hier soll bald klimafreundlicher Stahl entstehen.

Als sich Olaf Scholz im Februar auf einem Testfeld in Duisburg mit einem Wasserstofftank fotografieren lässt, steht Joachim Jungsbluth an seiner Seite. Seit vielen Jahren gehört Jungsbluth zu den Forschern, die das Zentrum für Brennstoffzellen-Technik aufbauen. Scholz müht sich, Pioniergeist zu versprühen. „Dass das jetzt der Moment ist, wo es losgeht, das kann man hier spüren“, sagt er. Wasserstoff werde eine zunehmende Bedeutung für Deutschlands Energieversorgung bekommen. Wo heute Gas, Kohle oder Öl eingesetzt würden, komme künftig in vielen Fällen Wasserstoff zum Einsatz.

„Wasserstoff ist ein Hype-Thema“ – so formuliert es Jungsbluth. Insbesondere im Ruhrgebiet wird das sichtbar. Die Liste der Revierunternehmen, die Projekte vorantreiben, ist lang. Von der Erzeugung über den Transport bis zur Speicherung und Anwendung von Wasserstoff reichen die Vorhaben. Die beiden größten deutschen Energieversorger Eon und RWE mischen dabei ebenso mit wie die Pipeline-Betreiber Open Grid Europe (OGE) und Thyssengas sowie große Verbraucher aus der Industrie, der Stahlhersteller Thyssenkrupp und der Chemiekonzern Evonik. Wasserstoff sei „längst nicht mehr ein Thema nur für Fachleute“, sagt RWE-Chef Markus Krebber schon Ende 2020. Denn es sei klar, dass eine Dekarbonisierung der Industrie ohne Wasserstoff nicht funktionieren werde. Gleiches gelte für die Luftfahrt und den Schwerlastverkehr. RWE will daran mitverdienen.

Eine Wachstumsbranche

Als Uwe Lauber, Vorstandschef der VW-Tochterfirma MAN Energy Solutions, Ende 2022 den Standort Oberhausen besucht, versprüht er Aufbruchstimmung. Sein Unternehmen, das seit Jahrzehnten Chemie-, Öl- und Gaskonzerne beliefert und Bauteile für Schiffsmotoren herstellt, will zunehmend Anlagen fertigen, die im Kampf gegen den Klimawandel nützlich sein können. Ein Beispiel: Elektrolyseure für die Wasserstoffproduktion. „Wir rechnen fest damit, dass Elektrolyseure für uns spätestens 2030 ein Geschäft sein werden, das jährlich ein Auftragsvolumen über eine Milliarde Euro bringt“, so Lauber. Wasserstoff komme dann zum Einsatz, wenn die Elektrifizierung nicht möglich oder sinnvoll sei.

Doch welche Rolle kann dabei das Ruhrgebiet spielen? „Eine Voraussetzung ist jede Menge erneuerbare Energie“, erklärt Lauber. „Daher haben Länder mit viel Sonne oder Wind Vorteile – Australien, Chile oder der Mittlere Osten zum Beispiel.“ Auch in Deutschland würden Elektrolyseure gebraucht. „Gerade mit einer guten Anbindung an Windpark-Standorte – etwa an der Nordsee – können sie auf einer guten Kostenbasis betrieben werden.“

Im niederländischen Eemshaven will der Essener Energiekonzern RWE einen Dreh- und Angelpunkt für die Wasserstoff-Wirtschaft entwickeln. Über Strom aus Windkraftanlagen auf hoher See könnte der Standort künftig grünen Wasserstoff produzieren. Deutschlands Industrie hat sich ein großes Puzzlespiel vorgenommen.

„Ein etablierter Prozess zur Ermittlung des Bedarfs für eine Wasserstoff-Infrastruktur besteht bisher nicht“, räumt das grün geführte NRW-Wirtschaftsministerium zu Jahresbeginn ein. Besser soll es mit einer Netzplanung werden. Die „Sektoren Strom, Gas und Wasserstoff“ müssten „miteinander verzahnt werden“, sagt Hendrik Neumann vom Stromnetzbetreiber Amprion. Pipeline-Betreiber wie OGE und Thyssengas, die vor allem Erdgas transportieren, bereiten den Umbau ihres Leitungsnetzes für die Wasserstoff-Versorgung vor.

Das Ende der Hochöfen

Einer der großen Verbraucher von Wasserstoff wird Thyssenkrupp sein. In Duisburg will der Ruhrkonzern bis Ende 2026 eine Direktreduktionsanlage für die Produktion von klimafreundlichem Stahl bauen. Rund 150 Meter hoch soll die neue Anlage werden – und damit die Hochöfen überragen. Ein radikaler Wandel in einer der deutschen Schlüsselindustrien bahnt sich an. Mit den sogenannten DR-Anlagen könnten die Hochöfen in einigen Jahren Geschichte sein. „Die kohlebasierte Stahlerzeugung hat in Europa keine Zukunft mehr“, sagt Bernhard Osburg, der Chef von Thyssenkrupp Steel. „Aber Stahl hat Zukunft, wenn er grün produziert wird.“

Seit Jahrzehnten gehört die Stahlindustrie zu den größten Verursachern von klimaschädlichem Gas. Allein am Standort Duisburg stößt Thyssenkrupp eigenen Angaben zufolge rund 20 Millionen Tonnen Kohlendioxid (CO2) pro Jahr aus – etwa 2,5 Prozent der gesamten CO2-Emissionen in Deutschland. Mit der neuen DR-Anlage, die nur einen von vier Hochöfen ersetzt, könnten immerhin mehr als 3,5 Millionen Tonnen CO2 vermieden werden.

„Was die Infrastruktur und unser technologisches Wissen in Sachen Wasserstoff angeht, spielt Deutschland global vorne mit“, erklärt Joachim Jungsbluth. Aber auch andere Nationen – Schweden etwa, Australien und Länder aus dem Nahen Osten – investieren derzeit gezielt in Wasserstoff. Vom Aufbau der Wasserstoff-Infrastruktur in Deutschland hänge ab, ob es gelingt, energieintensive Betriebe hierzulande zu halten. Der Stahl sei ein Beispiel dafür, ähnlich ist die Situation in der Chemieindustrie. „Wenn die Transformation in Duisburg nicht gelingt“, sagt Jungsbluth, „dann gelingt sie voraussichtlich nirgendwo“.

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