Innenstädte müssen sich verändern, so Handelsexperten. Die Neuerfindung ist nicht einfach. Doch darin liegt auch eine Chance.
Ein Einkaufsbummel in der Innenstadt, das war früher für viele Menschen im Ruhrgebiet der Höhepunkt der Woche. Heute aber sind Einkaufsstraßen mit Kaufhäusern und vielen Geschäften ein Auslaufmodell – und das hängt längst nicht nur mit dem Boom beim Online-Shopping und Corona zusammen. Die Pandemie habe nur eine Entwicklung beschleunigt, die bereits vor Jahren begonnen habe, sagen Stadtplaner und sind sich einig: „Die Innenstädte müssen sich verändern, wenn sie nicht veröden wollen.“ Nur wie?
Das vielleicht größte Problem: Die Innenstadt ist, wie sie ist. Eine Einkaufslage, in der sich alles ums Shoppen dreht. Und die in allen großen Städten ähnlich aussieht, mit den riesigen Filialen der immer gleichen Ketten. Viel zu groß, als dass sie für inhabergeführte Geschäfte noch bezahlbar wären.
Die bevorstehende Schließung vieler Galeria-Karstadt-Kaufhof-Häuser macht die Situation nicht einfacher. „Allein in Dortmund haben wir nach der Schließung erst einmal einen Klotz mit über 20.000 Quadratmetern da stehen“, weiß Thomas Schäfer, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes NRW. „Da können sie nicht so einfach etwas anders reinpacken.“
Als Alternative zum Neubau: Experten raten zum Entkernen
„Abreißen und neu bauen“ heißt es dann oft, vor allem, wenn es sich um alte, wenig energieeffiziente Gebäude handelt. Die Sache hat allerdings einen Haken, wie nicht nur Sandro Megerle, Trend-Analyst bei der Agentur Trend One, weiß. „Bei den Neubauten wird meist die sogenannte graue Energie ausgeblendet, die in den Gebäuden steckt.“ Bei einem Neubau macht sie etwa 50 Prozent des Energieverbrauchs im Lebenszyklus des Hauses aus. „Entkernen ist die bessere Lösung“, sagt Megerle. Und dann mit „Fluent Spaces“ (Fließenden Räumen) neu aufbauen – mit Wänden etwa, die sich verschieben oder leicht aus- und wieder einbauen lassen, wenn sich das Nutzungskonzept ändert.
Und verändern wird es sich künftig öfter als bisher. „Die Zeit der Innenstädte mit Fußgängerzonen als reine Einkaufsstraßen ist vorbei“, sagt Paul Eisewicht, der an der TU Dortmund zum Thema Konsum forscht. „Die Frage ist, ob Innenstädte weiter die klassische Absatzfunktion haben sollen“, findet auch Megerle.
Sollen sie nach übereinstimmender Einschätzung fast aller Stadtplaner nicht. Multifunktional sollen sie stattdessen sein. Ein Platz, an dem man sich gerne aufhält. An dem man lebt und oft auch wohnt. Mit viel Grün und möglichst wenig Autos. Mit Volkshochschul-Filialen, Uni-Hörsälen, Seniorenzentrum und Kindergarten. Mit Spielplätzen und Kulturbühnen. Mit Kino, Kneipen, Bücherei und Bürgerzentrum. Mit Start-up-Unternehmern und Pop-up-Stores, aber auch mit dem alteingesessenen Handel und Handwerksbetrieben. Und mit kurzen Wegen.
„15-Minuten-Stadt“ nennt sich etwa das aus Frankreich stammende Konzept, das Raum zum Wohnen und Arbeiten mit innovativen Einkaufsstrukturen und attraktiven Kultur- und Freizeitangeboten verbindet. Alle Strecken des Alltags – ob zum Supermarkt, in die Arztpraxis, zum Bahnhof, in eine Boutique, zum Friseur, zur Universität oder zum Arbeitsplatz – können dabei in weniger als 15 Minuten zu Fuß oder mit nachhaltigen Verkehrsmitteln wie dem ÖPNV oder dem Fahrrad zurückgelegt werden. „Ideen gibt es viele“, sagt Eisewicht. „Das Problem ist meist die Umsetzung.“
Vieles scheitert bereits an den Eigentümern der Immobilien, die sich oft schwer damit tun, dass eine Kommune oder soziale Einrichtung nicht annähernd so viel Miete zahlen kann wie ein Warenhauskonzern. „Man muss ihnen klar machen, dass sie ihre Renditeerwartungen anpassen müssen“, sagt Eisewicht. Und Megerle ahnt: „Viele Immobilien werden nicht mehr die Cashcows sein, die sie einmal waren.“
Dezentralisierung als Folge hoher Mietpreise
Wo die Mietpreise nicht nachgeben, warnen viele Planer, könnte es zu einer Dezentralisierung kommen. Mit vielen kleinen Vierteln oder Quartieren und speziellen Einkaufsmöglichkeiten. Dort könnten inhabergeführte Leben „die Erlebniskarte ausspielen“, die viele Filialisten nicht einmal mehr auf der Hand haben. „Einkaufen ist ein körperlich-emotionales Erlebnis.“ Das findet man oft in kleinen Geschäften, in denen man sich mit Namen kennt. Wo es gemütlich ist und wo auch verkauft wird, was es im Netz nicht an jeder Ecke gibt.
Damit verwandele sich ein Laden vom „Point of Sale zum Point of Experience“, sagt Trendforscher Megerle. Also von einem Platz des Verkaufens zu einem Platz an dem man etwas riechen, greifen, fühlen oder selbst ausprobieren und erfahren kann. Das kann ebenso ein Whisky-Tasting sein, wie ein interaktives Regal, das erkennt, wenn ein Produkt entnommen wird und die relevanten Informationen gut leserlich auf einem integrierten Bildschirm darstellt. Oder auch ein „Personal Shopping“-Erlebnis, bei dem die Kundschaft den Laden für sich hat.
Wenn eine Einkaufsstraße bisherigen Zuschnitts da mithalten möchte, sagt Eisewicht, müsse sie etwas ganz Besonderes bieten. „Etwas, das sonst niemand hat und das man unbedingt mal gesehen oder erlebt haben muss.“ Museen, die einzigartig sind, Läden, die es nirgendwo anders gibt. „Das wird“, weiß der Experte für die eine Stadt einfacher als für die andere.“
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