Kiev/Essen. Die ukrainische Journalistin Vitaliia Tyshak schildert, wie sie das Leben im Krieg erduldete – bis eine Druckwelle sie in ihrer Küche traf.

Ein Koffer. Oder wie wir ihn jetzt nennen, der „Angst-Rucksack“. Ich sehe ihn an und denke daran, wie ich mich früher jedes Jahr auf den Sommer gefreut habe, um ihn für den Urlaub zu packen, und jetzt muss ich mein ganzes Leben darin unterbringen. Was soll man da reinpacken, wenn einem das Blut in den Adern gefriert, weil plötzlich in meinem Land, in meinem Lwiw (Lemberg), um mich herum unschuldige Kinder getötet werden. Wenn man das Wertvollste in der Hand hält, nämlich die kleine Hand meines Sohnes David?

Krieg. So ein schreckliches Wort.

Einige Monate halte ich es aus. Gehe jeden Tag mit dem Gefühl ins Bett, eine Zielscheibe zu sein. Immer wenn der Alarm losheult, bete ich, dass die Raketen nicht hier einschlagen. Und tatsächlich treffen sie nicht mein Haus. Aber sie treffen ein anderes Haus, das Haus einer anderen Familie! In jeder freien Minute blicke ich auf den Fernsehbildschirm. Wieder Neuankömmlinge aus anderen Landesteilen. Wieder ist jemandes kleines Kind gestorben.

Ich sage mir immer wieder, leise wie ein Mantra, dass es nicht mehr lange dauern wird. Es wird bald vorbei sein, und mein vierjähriger Junge wird wieder in den Kindergarten gehen, und ich werde wieder arbeiten gehen, und alles um mich herum wird wieder normal werden. Doch dann heult wieder die Sirene.

Plötzlich schlägt uns die Druckwelle in den Bauch

Vitaliia und David Tyshak im Wohnheim. Seine letzte Zeichnung aus einer heilen Welt bewahrt die Mutter auf.
Vitaliia und David Tyshak im Wohnheim. Seine letzte Zeichnung aus einer heilen Welt bewahrt die Mutter auf. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Dann kommt dieser schöne Tag Mitte Mai, die Bäume blühen, auf den Spielplätzen lachen Kinder, und ich schenke der Sirene schon keine Beachtung mehr. David und ich kommen gerade von einem Spaziergang und befinden uns in der Küche, als die Balkontür birst. Wir spüren die volle Wucht der Druckwelle in unseren Körpern. Ich nehme meinen Sohn in den Arm und laufe hinaus. Eine schwarze Wolke breitet sich aus, düster wie die Gewissheit, dass ich es nicht mehr verantworten kann, meinen Sohn dieser Gefahr auszusetzen. Die Rakete ist 500 Meter von unserem Haus eingeschlagen. Wir müssen gehen – fortlaufen?

Als ich am nächsten Tag das Haus verlasse, drehe ich mich ein letztes Mal um und erstarre. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass mein Zuhause bereits zerstört ist. Es ist genau genommen das Haus meiner Eltern, David und ich wohnen hier in unserer eigenen Wohnung. Jeder kennt jeden in der Nachbarschaft, in der Nähe gibt es einen Park. Ich bin hier aufgewachsen. Hier haben sich alle meine Pläne und Träume entfaltet. Das alles verdichtet sich in diesem Bild. Mögen die Mauern meines Hauses fallen, aber ich werde nicht zulassen, dass jemand meine Erinnerungen zerstört.

Das ist es. Es ist Zeit zu gehen. Das Taxi zum Bahnhof steht bereit. In der einen Hand habe ich meinen Koffer, mit der anderen halte ich die Hand meines Sohnes. Und er hält das Bild, das er gestern gemalt hat, dort: im friedlichen Leben. Es zeigt David, mich und seinen Vater. Wir sind geschieden, er bleibt in der Ukraine. Meine Eltern begleiten mich über Warschau und Berlin nach Essen, wo schon meine Schwester in einem Flüchtlingsheim lebt. Sie werden nach einige Tagen zurückkehren.

Die Reise ins Ungewisse verläuft für mich wie im Nebel

Als wir in Essen ankommen, begrüßen uns die warme Mai-Sonne und die vertrauten gelben und blauen Farben. Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als ich bemerke, dass die Essener Flagge die gleichen Farben trägt wie die Symbole meines Landes. Meine Müdigkeit und Angst ist noch im Hauptbahnhof wie weggeblasen. Das Gefühl ist nicht greifbar, nicht rational, aber in diesem Moment wird mir klar, dass mein Sohn und ich uns hier wohl fühlen werden.

Mein Koffer steht nun leer unter dem Bett in unserem Zimmer, das wir uns in einem Frauenwohnheim der Caritas teilen. Wir sind umgeben von lächelnden Menschen, die immer bereit sind, Fremden zu helfen. Zurzeit arbeite ich als Reinigungskraft, so fühle ich mich zumindest in gewisser Weise gebraucht. Davids wenige T-Shirts und seine Jacke liegen fein säuberlich gefaltet im Schrank, und seine Zeichnungen aus seinem „alten Leben“ ebenso sorgsam verwahrt in einem Album. Mein Sohn geht gerne in den Kindergarten, macht Parkour im Kinderzentrum und geht ins Schwimmbad. Er vermisst sein Zuhause, seinen Papa und seine Großeltern und unseren Hund. Aber er hat zum Glück keine Albträume. David versteht noch nicht, warum wir hier sind.

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Vitaliia Tyshak: „Mein Sohn hat zum Glück keine Albträume.“
Vitaliia Tyshak: „Mein Sohn hat zum Glück keine Albträume.“ © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Vitaliia Tyshak hat Journalismus in Lwiw studiert und für die Regionalzeitungen Novyny Zakarpattya und Nasha Batkivshchyna geschrieben. Zuletzt arbeitete sie im Handel als Vertriebsleiterin.

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