Essen. Mit fünf neuen Forschungszentren will das Ruhrgebiet an die Weltspitze. Max-Planck-Präsident Martin Stratmann erklärt, wie das geht.

Als „Germany‘s Rust Belt“ ist das Ruhrgebiet im englischen Sprachraum bekannt. Als „Rost-Gürtel“ also, was sich auf seine Vergangenheit aus Kohle und Stahl und die inzwischen rostigen ehemaligen Industrieanlagen bezieht.

Da passt es ins Bild, dass mit Prof. Martin Stratmann ausgerechnet ein Korrosionsforscher die Zukunft der Region mitgestaltet hat. Der gebürtige Essener ist seit 2014 Präsident der renommierten Max-Planck-Gesellschaft (MPG) und eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der deutschen Wissenschaft. Seine akademische Karriere startete er als Chemiestudent an der Ruhr-Uni Bochum. Als langjähriger Direktor des Max-Planck-Instituts für Eisenforschung in Düsseldorf beobachtete er den Weg des Ruhrgebiets von einer Montan- zu einer Wissenschaftsregion aus unmittelbarer Nähe. Und diese Entwicklung wird in naher Zukunft einen gewaltigen Schub erhalten, ist Stratmann überzeugt.

Prof. Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft
Prof. Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft © MPG | Axel Griesch Fotografie

Als Ko-Moderator für das Thema Wissenschaft bei der 2018 von der Landesregierung gestarteten Ruhrkonferenz zur Zukunft des Ruhrgebiets gab der MPG-Präsident mit der ehemaligen Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen den Anstoß für eine starke Forschungs-Allianz (Research Alliance) der drei Ruhrgebiets-Unis Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen.

Internationales Spitzenniveau

Das Ziel des neuen Projekts: Mit einer massiven Investition des Landes in Höhe von 75 Millionen Euro soll die Forschung im Revier auf internationales Spitzenniveau gehoben und das Ruhrgebiet als Region von Wissenschaft, Forschung und innovativer Unternehmen weltweit sichtbar werden. Nach der Aufbauphase wird der neue Verbund ab 2025 voraussichtlich mit weiteren 48 Millionen Euro gefördert – pro Jahr.

Mit dem neuen Forschungsverbund werden die Stärken der drei Unis, die bereits seit 2007 in der Universitäts-Allianz Ruhr (UA Ruhr) verbunden sind, in wichtigen Zukunftsfragen thematisch gebündelt und gestärkt. Konkret werden mit den Geldern zwischen Duisburg und Dortmund vier natur- und ingenieurwissenschaftlich ausgerichtete Forschungszentren zu den Themen Gesundheit, Chemie und Nachhaltigkeit, vertrauenswürdige Algorithmen, Materialforschung sowie ein geistes- und sozialwissenschaftliches College aufgebaut. Rund 50 Professuren sowie zahlreiche Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter werden geschaffen.

Blaupause für das „Ruhrgebiet 2.0“

„Das ist eine Riesenchance für das Ruhrgebiet“, sagt MPG-Präsident Stratmann. Es war maßgeblich seine Vision, die Stärken der drei in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden Universitäten mit 120.000 Studierenden und 14.000 Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in gemeinsamen Zentren zu konzentrieren und so „Forschung auf Weltniveau“ zu ermöglichen.

Die Ruhrkonferenz bot die einmalige Möglichkeit, so Stratmann, diese neue Forschungsstruktur im Ruhrgebiet einzurichten. Denn es habe keinen Sinn, Traditionsregionen wie München oder Heidelberg nachzueifern, man müsse etwas Neues auf den Weg bringen. Gerade jetzt sei der richtige Zeitpunkt dafür, denn auch die Wissenschaft stehe in vielen Bereichen vor großen Umbrüchen, etwa in der Medizin, der Künstlichen Intelligenz, Datensicherheit und Materialwissenschaft.

Was nur das Revier bieten kann

Stratmann: „Das Ruhrgebiet hat etwas, was keine andere Region in Deutschland bieten kann. Viele Hochschulen und Forschungsinstitute auf engem Raum, große Freiflächen innerhalb der Städte für neue Institute, Wohnen und Leben sowie eine junge, bildungshungrige Generation. Das ist die Blaupause für das Ruhrgebiet 2.0“, ist er überzeugt.

Das sei auch für die wirtschaftliche Zukunft der Region zentral: „Eine ökonomische Entwicklung ist nur möglich, wenn sie auf Wissenschaft und Forschung aufbaut. Diesen Zusammenhang kann man weltweit beobachten.“ Daher sei die Investition nicht allein ein Wissenschafts-Konzept, sondern eine politische Weichenstellung. Was die Menschen im Revier davon haben? Ganz einfach, sagt Stratmann: „Eine Zukunft.“

Die Direktorinnen und Direktoren stellen die fünf neuen Forschungszentren der Research-Alliance im Ruhrgebiet vor:

Prof. Dirk Schadendorf leitet des Forschungszentrums „One Health Ruhr“.
Prof. Dirk Schadendorf leitet des Forschungszentrums „One Health Ruhr“. © UK Essen | Martin Kaiser

Gesundheit und Umwelt

Prof. Dirk Schadendorf: Research Center One Health Ruhr

„Wir leben in Zeiten des globalen Wandels. Seit Beginn des Anthropozäns hat sich unser Planet in allen biologischen Maßstäben - von Molekülen über Menschen bis hin zu Ökosystemen - in einem noch nie dagewesenen Tempo verändert und wirft grundlegende Fragen über die Zukunft unseres Planeten auf. Das Wohlergehen der menschlichen Gesellschaft hängt dabei unmittelbar von der Qualität und Gesundheit der Umwelt ab, in der wir leben.

Der Kern des Research Center One Health Ruhr – from Molecules to Systems ist es daher, die grundlegenden Mechanismen von Gesundheit und Krankheit zu untersuchen. Dabei dient das Ökosystem als Kontext, sodass auch die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Umweltgesundheit und menschlicher Gesundheit berücksichtigt werden. One Health Ruhr befasst sich zum einen mit grundlegenden molekularen und systemischen Mechanismen, die körperliche und mentale Funktionen aufrechterhalten.

Zum anderen geht es um Störungen innerhalb von Systemen, die Abweichungen vom Normalzustand und dadurch Krankheiten im weitesten Sinne verursachen. Unter dieser ganzheitlichen Betrachtungsweise verbindet One Health Ruhr die zentralen Bereiche Molekularbiologie, Wasserforschung, molekulare Krebsforschung sowie die Neurowissenschaft in einem Wissenschaftshub, in dem die Grenzen getrennter Disziplinen überwunden werden. Die übergreifenden Ziele von One Health Ruhr spiegeln dabei nicht nur aktuelle internationale Herausforderungen der Wissenschaft wider, sondern repräsentieren vor allem die besonderen Stärken der Wissenschaftslandschaft UA Ruhr.“

Prof. Emmanuel Müller leitet das Research Center „Trustworthy Data Science and Security“.
Prof. Emmanuel Müller leitet das Research Center „Trustworthy Data Science and Security“. © Privat | Privat

Vertrauen in die digitale Welt

Prof. Emmanuel Müller: Research Center Trustworthy Data Science and Security

„Im digitalen Zeitalter werden viele Entscheidungen, die Menschen in Wissenschaft, Industrie und Gesellschaft treffen, durch Computer-gestützte Technologien unterstützt – zum Teil ohne dass wir uns dessen bewusst sind oder aber in blindem Vertrauen. Gleichzeitig fehlt in vielen Bereichen der Gesellschaft Vertrauen in digitale Technologien wie z.B. Künstliche Intelligenz.

Die Vision des interdisziplinären Research Centers Trustworthy Data Science and Security ist es, diese Vertrauenslücke durch neue wissenschaftliche Ansätze zu schließen. Wir wollen Methoden entwickeln, welche technische Zuverlässigkeit und menschliches Vertrauen unter unserem Leitbild „Trustworthy by Design“ in Einklang bringen. Wir verfolgen einen einzigartigen interdisziplinären Forschungsansatz, der das gesamte Spektrum der wissenschaftlichen Herausforderungen vertrauenswürdiger und datenschutzbewusster Technologien abdeckt.

Nur durch die Kopplung einer Vielzahl von Disziplinen – von Mathematik, Statistik und Informatik über Psychologie bis hin zu Geistes- und Sozialwissenschaften – können wir die angestrebte Zentrierung auf den Menschen und die Vertrauenswürdigkeit von statistischer Datenanalyse, Maschinellem Lernen und Cybersicherheit erreichen und so helfen, die Akzeptanz der Gesellschaft gegenüber vertrauenswürdigen Technologien zu steigern. Dafür nutzen wir die Stärken der drei Universitäten bei Künstlicher Intelligenz, Cybersicherheit, Statistik und Psychologie.“

Prof. Alfred Ludwig leitet das Research Center „Future Energy Materials and Systems“.
Prof. Alfred Ludwig leitet das Research Center „Future Energy Materials and Systems“. © Marquard | RUB

Neue Materialien für nachhaltige Energie

Prof. Alfred Ludwig: Research Center Future Energy Materials and Systems

„Im Research Center Future Energy Materials and Systems verfolgen wir das Ziel, neue, dringend benötigte Materialien für ein nachhaltiges Energiesystem der Zukunft zu entwickeln. Es gibt im Ruhrgebiet eine vielfältige und starke Forschungslandschaft auch mit zahlreichen Verbindungen zur Industrie, das stellt für das Center eine hervorragende Basis dar.

Wir kombinieren wissenschaftliche Kreativität mit dem Know How, wie neue Ideen in die Umsetzung gebracht werden. Materialien im Kontext der Energiewende zu betrachten ist hochaktuell, und durch das Research Center wird die Forschung der drei Universitäten im Ruhrgebiet dazu einen bedeutenden Beitrag leisten können. Wir freuen uns, dass ab April 2023 drei weitere herausragende Kolleginnen und Kollegen auf neuen Professuren im Center forschen werden.

Es geht dabei u.a. darum, Funktionsmaterialien wie Katalysatoren für die Energieträgererzeugung zu entwickeln, Stichwort grüner Wasserstoff, aber auch um Materialien, die zum Beispiel zur klimafreundlichen Kühlung eingesetzt werden können. Wir müssen dazu grundlegende Eigenschaften und relevante Prozesse der Herstellung und des Einsatzes neuer Materialien verstehen. Wir betrachten den Einfluss von Material-Zusammensetzung und Prozessierung auf Strukturen und Eigenschaften vom Atom bis zum Bauteil. Auch Aspekte der Nachhaltigkeit, Ressourcenverfügbarkeit, Wirtschaftlichkeit und Nutzbarkeit im Energiesystem werden dabei von vorneherein mitberücksichtigt.“


Prof. Martina Havenith-Newen leitet das Research Center „Chemical Sciences an Sustainability“.
Prof. Martina Havenith-Newen leitet das Research Center „Chemical Sciences an Sustainability“. © Marquard | RUB

Chemie und nachhaltiger Beton

Prof. Martina Havenith-Newen: Research Center Chemical Sciences and Sustainability

„NRW ist ein Chemiestandort – in NRW wird über ein Drittel des Gesamtumsatzes der chemischen Industrie in Deutschland erwirtschaftet, sie sichert 90.000 Arbeitsplätze. Durch den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen, die für die Energieerzeugung und als Ausgangsstoff für chemische Produkte verwendet werden, steht die chemische Industrie vor großen Herausforderungen.

Neue chemische Technologien müssen entwickelt werden, um weiter zukunftssicher aufgestellt zu sein. Im deutschlandweiten Wettbewerb sind wir im Bereich Chemie als Sieger aus dem Wettbewerb um Exzellenzcluster hervorgegangen. Im neu gegründeten Research Center Chemical Sciences and Sustainability (Chemische Wissenschaften und Nachhaltigkeit) konnten, aufbauend auf diesem Erfolg, bereits weitere internationale Spitzenwissenschaftler:innen rekrutiert werden.

Neben dem Ersatz von fossilen Brennstoffen und der Reduzierung des CO2-Fußabdruckes soll auch das Thema „nachhaltiger Beton“ neu aufgegriffen werden. Zurzeit werden durch die Herstellung von Beton weltweit acht Prozent der CO2-Emissionen und zehn Prozent des Industrieabwassers verursacht, hier sind Innovationen gefragt, um diese Grenzwerte zu senken.

Dank des neuen Research Centers können wir Grenzen zwischen den drei Universitäten und Grenzen zwischen den Fachdisziplinen überwinden. Durch die flexible Struktur lassen sich neue gesellschaftlich relevante Zukunftsfelder im Bereich Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft jenseits der traditionellen universitären Strukturen erschließen. Innovative, umweltfreundliche und ökonomisch-kompetitive technologische Anwendungen in der Chemie und Pharmazie können entwickelt werden.“


Prof. Julika Griem leitet das „College for Social Sciences and Humanities“.
Prof. Julika Griem leitet das „College for Social Sciences and Humanities“. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Für eine lebenswerte Zukunft

Prof. Julika Griem: College for Social Sciences and Humanities

„Die Herausforderungen und Krisen unserer Zeit lassen sich nicht allein durch technische Lösungen bewältigen, sondern werfen soziale, politische, rechtliche, kulturelle und ethische Fragen auf. Die Sozial- und Geisteswissenschaften tragen zur Beantwortung dieser Fragen Grundlegendes bei – etwa wenn es um die gerechte Verteilung von Chancen und Risiken geht oder darum, welche Aufgaben wir künstlichen Intelligenzen überlassen wollen.

Ziel des College for Social Sciences and Humanities ist es, international ausgewiesene Spitzenforscher:innen auf dem Gebiet der Sozial- und Geisteswissenschaften in der Metropolregion Ruhr zusammenzuführen und ein weltweit sichtbares Forum für den fächerübergreifenden Austausch zu schaffen. Zu diesem Zweck wird das College in der Essener Innenstadt einen neuen Forschungsstandort eröffnen, an dem Kolleg:innen aller drei Ruhrgebietsuniversitäten mit renommierten Gästen aus dem Ausland an gemeinsamen Forschungsprojekten arbeiten werden. Zudem werden im College drei interdisziplinäre Forschungsprofessuren und Forschungsgruppen eingerichtet.

Als Teil der Research Alliance Ruhr ist es unser Anspruch, das Ruhrgebiet zu einem Standort für internationale Spitzenforschung in den Sozial- und Geisteswissenschaften weiterzuentwickeln. Zugleich möchten wir unsere Türen für die Öffentlichkeit öffnen und zu einem Dialog über gesellschaftlich relevante Themen einladen, etwa über die Frage, wie aus einem besseren Verständnis der Vergangenheit eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft gestaltet werden kann.“

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Dieser Beitrag erscheint anlässlich des 75. Geburtstages der WAZ. Alle Artikel zum Jubiläum finden Sie unter waz.de/75jahrewaz. Unsere große Jubiläumsausgabe können Sie auch online durchblättern als digitales „Flipbook“: waz.de/jubilaeum.