Am Niederrhein. Thorsten Schleif ist Richter und trifft täglich Entscheidungen. Sein neues Buch will nicht nur Kollegen Tipps geben, die das nicht so gut können.
Thorsten Schleif (40) ist Amtsrichter in Dinslaken. Sein Bestseller „Urteil: ungerecht. Ein Richter deckt auf, warum unsere Justiz versagt“ hat im vergangenen Jahr nicht nur ein breites Medienecho ausgelöst– er hat auch zu hitzigen Debatten über unser Rechtssystem geführt. Schleif kritisierte darin unter anderem, in Deutschland würden zu viele Urteile zur Bewährung ausgesetzt, weil die Richter nicht in der Lage seien, zu entscheiden.
Nun hilft er seinen Kolleginnen und Kollegen, aber nicht nur ihnen, auf die Sprünge. Sein neues Buch geht nicht nur der Frage auf den Grund, warum viele Menschen sich nicht entscheiden können. Es zeigt auch Wege aus der Entscheidungsschwäche.
Wie viele Entscheidungen haben Sie als Richter getroffen? Und mir welchen Folgen?
Als Strafrichter treffe ich pro Jahr etwa 400 Entscheidungen. Dazu kommen noch Entscheidungen z B. über Haftbefehle oder in Unterbringungsverfahren. Wenn man alles zusammennimmt, habe ich Haftstrafen über 1000 Jahre ausgesprochen, Geldstrafen von mehreren 100.000 Euro, dazu kommen noch mehrere tausend Sozialstunden. Und früher als Zivilrichter gingen meine Entscheidungen insgesamt auf mehrere Millionen Euro.
Wie leicht fallen Ihnen Entscheidungen?
Entscheidungen fallen mir leicht, weil ich weiß, wie ich zu entscheiden habe. Das heißt nicht, dass die Verantwortung, die dahintersteht, leicht ist, aber das Treffen der Entscheidungen schon. Das Schwerere ist, die Entscheidung auch zu verantworten. In dreizehn Jahren als Richter habe ich gelernt zu entscheiden und meine Entscheidungsfähigkeit auch immer weiterentwickelt.
Wie haben Sie gelernt, sich zu entscheiden?
In Deutschland werden Richter nicht in Entscheidungsfindung und Entscheidungspsychologie ausgebildet. In anderen Ländern ist das anders. Ich hatte das Glück, dass ich zu Beginn meines Studiums eine Psychologiestudentin kennengelernt habe, die meinte, es sei doch eigentlich komisch, dass wir Juristen Entscheidungen treffen sollten und gar nicht wüssten, wie das geht. Psychologen lernten das wenigstens. Ich habe sie damals gefragt, ob sie mir Literatur dazu empfehlen kann, dann habe ich meine ersten Aufsätze und Bücher darüber gelesen, und so ist Entscheidungsfindung ein Hobby von mir geworden.
Vielen Menschen fällt es schwer, sich zu entscheiden. Ist das menschliche Hirn überhaupt dafür gemacht, ständig Entscheidungen zu treffen?
Ja, das menschliche Gehirn kann jede Entscheidung treffen, sei es ein Strafurteil, sei es eine Geldanlage über mehrere Millionen Euro oder sei es auch die Entscheidung, einen Atomkrieg anzufangen oder nicht anzufangen, wie John F. Kennedy das gemacht hat.
Hat die weit verbreitete Entscheidungsschwäche etwas mit unserer Kultur zu tun?
Größtenteils schon. Das Problem ist, dass wir heute in einer Welt leben, in der wir eine unglaubliche Angebotsvielfalt haben. Das führt dazu, dass wir uns gezwungen sehen, quasi rund um die Uhr zu entscheiden. Als normaler Mensch treffe ich heute genauso viele Entscheidungen, wie ich Atemzüge pro Tag mache.
„Wir haben nur ein bestimmtes Maß an Willenskraft“
Wir haben aber von Natur aus nur ein bestimmtes Maß an Willenskraft. Wenn die Willenskraft einmal aufgebraucht ist, fällt es extrem schwer, Entscheidungen zu treffen. Außerdem werden wir so sozialisiert, dass wir Entscheidungen immer richtig zu treffen haben, wir dürfen keine Fehler machen. Das begleitet uns leider schon seit der Schule, weil da schon Fehler als etwas Schlechtes angesehen werden. Es gibt den alten Spruch, wer nichts macht, macht nichts falsch, und das haben wir leider kultiviert. Wir versuchen, Entscheidungen zu vermeiden aus Angst, Fehler zu machen.
Wohin führt Entscheidungsschwäche?
Zu sehr vielen Problemen. Wenn ein Politiker unter Entscheidungsschwäche leidet, verlieren die Bürger das Vertrauen in die Politik. Entscheidungsschwäche in einem Unternehmen führt zu Entscheidungsstillstand, das Unternehmen verliert den Anschluss an den Markt und geht pleite. Psychologen sehen Entscheidungsschwäche häufig im Zusammenhang mit Depressionen: Eine entscheidungsschwache Person fühlt sich schlecht und minderwertig.
Kann ich Entscheidungsschwäche überwinden?
Ich kann lernen, einerseits meine Willenskraft zu trainieren und andererseits zu portionieren, indem ich mich bewusst zurückhalte. Ich muss ja nicht alle Entscheidungen treffen. Wenn ich zum Beispiel in meinen Alltag bewusst Routinen einbringe, also Sachen immer wieder gleich mache und nicht wieder neu entscheiden muss, spare ich schon Willenskraft.
Man sagt so leicht: Das ist meine freie Entscheidung. Gibt es die überhaupt?
Das ist immer die Frage, wer entscheidet in unserem Kopf. Ist es unser Unterbewusstsein oder unser Bewusstsein. Je mehr eine Entscheidung an unser Unterbewusstsein abgegeben wird, umso mehr ist die Entscheidung reflexbedingt, das heißt, eine Reaktion. Das Bewusstsein setzt dann die von unserem Unterbewusstsein getroffene Entscheidung nur noch um.
Je mehr ich mir allerdings darüber im Klaren bin, was passiert, desto mehr kann ich auch selbst beeinflussen, lasse ich mein Unterbewusstsein überhaupt so weit kommen? Lasse ich diesen Reflex auf mich wirken? Wenn ich das mal verstanden habe, kann ich Entscheidungen deutlich bewusster treffen.
Wir Richter haben wegen fehlender Ausbildung in Entscheidungsfindung dort erhebliche Defizite
In Ihrem vorigen Buch bedauern Sie, dass so viele Strafen Bewährungsstrafen sind. Können Ihre Kollegen sich auch nicht entscheiden?
Das ist ein großes Problem. Wir Richter haben wegen der fehlenden Ausbildung in Entscheidungsfindung dort erhebliche Defizite. Ich beobachte bei sehr vielen Kollegen, dass aus Angst, einen Fehler zu machen, gar keine Entscheidung getroffen wird. Und ich beobachte bei sehr vielen Kollegen das Problem, dass sie sich nicht entscheiden können, und deshalb auch Entscheidungen gezielt vermeiden.
Zuletzt eine Entscheidungshilfe: Sie sitzen im Restaurant, auf der Karte stehen 40 Gerichte. Wie wählen Sie aus?
Da ist es am wichtigsten, sich nicht von den vielen Optionen in die Irre führen zu lassen. Zu viele Optionen führen dazu, dass man sich für keine Option entscheiden kann. Das beschreibe ich auch in meinem Buch. Beim Essen sollte man sich zuerst ein Kriterium aussuchen und dann maximal zwei Gerichte zu suchen, die dieses Kriterium erfüllen. Ein Beispiel: Ich entscheide, ich möchte heute Hühnchen essen. Dann suche ich mir zwei Hühnchengerichte von der Karte aus und entscheide dann zwischen diesen beiden. Zwischen zwei Optionen zu wählen ist deutlich einfacher als zwischen vierzig.