Essen. . Bis in die 1970er Jahren starben auf Essens Straßen jedes Jahr mehr als 100 Menschen. Der ehemalige Feuerwehrmann Peter Gerhards erinnert sich.

  • Polizeipräsident findet 1967 nach hohen Unfallzahlen drastische Worte: Fußgänger werden wegrasiert
  • Feuerwehrmann Peter Gerhards (79) erinnert sich: Konnten den Verletzten nur gut zureden
  • Ab Mitte der 1970er Jahre: Erstversorgung am Unfallort Vorschrift. Mehr Sicherheit durch Gurtpflicht

In unserer Rubrik „Vor 50 Jahren“ erinnerten wir kürzlich an eine Schlagzeile vom 8. November 1967: Der damalige Polizeipräsident Hans Kirchhoff fand drastische Worte angesichts von 109 Unfalltoten, die es zu beklagen gab – darunter 66 Fußgänger. „Die Fußgänger werden von den Straßen wegrasiert, sie werden fertiggemacht“, ließ Kirchhoff sich zitieren. 128 Verkehrstote sollten es am Jahresende sein. Und das war noch nicht einmal der traurige Negativrekord. Schon im Jahr 1957 hatten in Essen 142 Menschen ihr Leben im Straßenverkehr verloren. Zum Vergleich: Im laufenden Jahr 2017 sind bislang drei Unfalltote zu beklagen.

Was war damals los auf den Essener Straßen? Und was hat sich zum Positiven verändert?

„Den Verletzten konnten wir nur gut zusprechen“

Peter Gerhards (79) schob von 1959 bis 1998 Dienst bei der Feuerwehr. Rettungseinsätze nach Verkehrsunfällen zählten zu den Aufgaben des Feuerwehrmanns. An der Feuerwehrwache I standen dafür zwei Unfallwagen bereit, aufs Stadtgebiet verteilt waren es derer elf. „Das waren VW-Bullis, ausgerüstet mit Martinshorn, Blaulicht und einer Tragbahre. Das war’s“, erinnert sich der heute 79-Jährige. Zwei Feuerwehrmänner waren für den Rettungsdienst abgestellt. Bei Bedarf sprangen zwei Kollegen aus dem Löschzug ein. Ein Rettungseinsatz lief in der Regel so ab: „Die Leute rein in den Wagen und so schnell wie möglich zum nächsten Krankenhaus“, berichtet Gerhards. „Den Verletzten konnten wir nur gut zureden. Wer ansprechbar war, dem hielt man die Hand. Oft waren sie auch gar nicht mehr bei Bewusstsein.“ Ob der Betreffende schwer verletzt war oder gar schon tot, erfuhren die Retter wenn überhaupt oft erst, wenn sie das Krankenhaus erreichten.

Peter Gerhards im heutigen Fuhrpark der Feuerwehr.
Peter Gerhards im heutigen Fuhrpark der Feuerwehr. © Kerstin Kokoska

Erst Mitte der 1970er Jahre setzte NRW mit dem Gesetz für das Rettungswesen höhere Standards. „Lebensrettende Maßnahmen waren am Unfallort vorzunehmen und die Transportfähigkeit herzustellen“, wie Mike Filzen, Sprecher der Essener Feuerwehr, betont. Peter Gerhards erinnert sich: „Wir wurden zwei oder drei Wochen in den städtischen Krankenanstalten geschult. Das Wissen gaben wir dann an die Kollegen weiter.“ Die Zahl der Unfalltoten sollte fortan stetig sinken.

Sicherheit durch Gurtpflicht, Knautschzone und ABS

Zwischen dem Rettungswesen der 1950er und 1960er Jahre und den Einsätzen heute liegen Welten. Die Feuerwehr verfügt inzwischen über 23 Rettungswagen, jeder einzelne 175 000 Euro teuer. „Das sind rollende Kliniken“, staunt Peter Gerhards. An sieben Essener Krankenhäusern steht zudem je ein Notarztwagen bereit.

Nicht nur im Rettungsdienst hat der technische Fortschritt dazu beigetragen, dass die Chancen, einen schweren Unfall zu überleben, deutlich gestiegen sind. Anders als ihre Vorgängermodelle verfügen moderne Pkw über Knautschzonen, ABS und Airbags sind heute Standard. Der Fortschritt macht nicht halt. Bald werde das autonome Fahren den Straßenverkehr sicherer machen; davon ist Karl-Heinz Webels, Vorsitzender der Verkehrswacht, überzeugt.

Schon die 1975 eingeführte Gurtpflicht, die seinerzeit so mancher Autofahrer als Beschneidung seiner persönlichen Freiheit empfand, dürfte ebenso Leben gerettet haben wie verschärfte Promillegrenzen. Eingeführt wurde eine solche schon 1953, doch lag sie damals bei 1,5 Promille.Im Klartext: Besoffen Auto fahren wurde quasi von Amts wegen toleriert.

Auch in puncto Verkehrsführung hat sich in der autofreundlichen Stadt Essen einiges zugunsten der Verkehrssicherheit getan, etwa durch die Einrichtung von Tempo-30-Zonen und Überwege an Schulen. Noch Anfang der 1970er Jahren mussten beispielsweise Schüler der Cranachschule in Frohnhausen beim Überqueren der viel befahrenen Rubensstraße ihr Leben riskieren. Erst als dabei ein Junge zu Tode kam, baute die Stadt einen Fußgängerüberweg.

Damals wie heute gilt: Es sind die schwächeren Verkehrsteilnehmer, die häufig Opfer von Verkehrsunfällen werden: Kinder und alte Menschen. Das war schon 1967 so, als Polizeipräsident Kirchhoff den Wahnsinn anprangerte, der sich täglich auf den Straßen abspielte.

„66 tödlich verunglückte Fußgänger – diese Zahl haut mich um“, sagt Karl-Heinz Webels von der Verkehrswacht. Die Statistik spricht heute andere Zahlen, auch wenn jeder Verkehrstote einer zu viel ist. Dass seit drei Jahren kein Kind mehr auf Essens Straßen sein Leben lassen musste, ist für die Verkehrswacht kein Grund in ihrem Bemühen nachzulassen. Verkehrserziehung müsse schon im Kindergarten anfangen und dürfe im Jugendlichenalter nicht aufhören, so Webels. Das Handy in der Hand, den Knopf im Ohr – technischer Fortschritt kann im Straßenverkehr auch zum Risiko werden.