Ruhrgebiet. .

Zwei Liter Milch und Toastbrot nahm die 75-Jährige aus einem Geschäft in Wesel mit. Eine 65-Jährige bestahl Kundinnen auf der Düsseldorfer Kö, in Kleve schmuggelte ein 72-Jähriger Drogen. Vor Gericht dann meist: tränenreiche Reue.

Doch selbst Tränen können nicht verschleiern: Mit den Deutschen werden auch ihre Delinquenten immer älter. Die aktuelle Statistik zur Kriminalitätsentwicklung rechnet einen erneuten Anstieg „lebensälterer“ Tatverdächtiger vor; danach gab es 2013 genau 31 196 mutmaßliche Straftäter über 60 Jahre in NRW – ein Anstieg um fast neun Prozent innerhalb eines Jahrzehnts.

Unter ihnen mögen notorische Verbrecher sein, die mit der Bevölkerung altern und fit bleiben. Rund 80 Prozent aber fallen als Ersttäter auf. Warum und womit? „Ein Phänomen“, sagt Arnold Plickert, Landes-Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), das dringend kriminologisch erforscht werden müsse. Denn schon 2030 wird die Zahl der Gesetzesbrecher 60+ die der straffälligen Jugendlichen wohl erstmals übertreffen.

Ältere fallen seltendurch schwere Straftaten auf

Die Soziologin Franziska Kunz hat bereits einen Anlauf genommen: Sie befragte anonym 2000 Senioren und fand heraus, „häufigstes Delikt war Trunkenheit am Steuer“. Gefolgt von Schwarzarbeit, Versicherungs- und Steuerbetrug.

Anders die Zahlen tatsächlich verfolgter Straftaten, die Jörg Ziercke, Chef des Bundeskriminalamts, im Herbst erstmals vorgelegt hat: Danach liegt bei den Tatverdächtigen über 60 Jahren Diebstahl und Beleidigung mit einem Anteil von elf Prozent ganz vorn.

Polizei-Gewerkschafter Plickert nennt die straffälligen Alten „Täter“, „bewusst in Anführungszeichen“, sie fallen ja selten durch schwere Straftaten auf. Schlagen vielleicht aus Alters-Starrsinn und Rechthaberei über die Stränge, beleidigen Nachbarn, beschimpfen Polizisten, nötigen im Straßenverkehr. Oder fahren schwarz: So wurde „Oma Gerti“, 87, in Wuppertal bekannt. Die sollte 22-mal ohne Fahrkarte erwischt worden sein und, weil sie nicht zahlte, ins Gefängnis. Für Empörung sorgte das – und für Belustigung.

Denn Geschichten über „Klau-Oma“, „Drogen-Opa“ und andere graue Ganoven erzählen sich ganz amüsant, doch in der Regel sind sie überhaupt nicht witzig. Auch das ist nämlich wahr: Viele kommen wegen Körperverletzung vor den Kadi. Tragische Fälle sind das, von Ehemännern, die schwerstkranke Gattinnen nicht länger leiden sehen können, an Sterbehilfe aber verzweifelt scheitern. Oder Ausfälle wie der des 83-Jährigen aus Oberhausen, der nach einem Streit seine Nachbarin (82) mit dem Hammer krankenhausreif schlug. Ein Viertel aller fahrlässigen Brandstiftungen werden zudem von Älteren „verübt“ – die vergessene Kerze, die Zigarette im Bett. . .

Wissenschaftler unterscheiden deshalb zwischen Bagatell- und Überforderungskriminalität. Wobei auch die Bagatelle „Beförderungserschleichung“ mit dem Diebstahl ein trauriges Motiv gemein hat: Beides habe „viel mit Altersarmut zu tun“, glaubt Plickert. Und ist damit nicht allein. Auch Juristin Christine Lachmund, die für ihr Buch „Der alte Straftäter“ 4200 Verfahrensakten am Landgericht Darmstadt durchkämmte, erkannte Armut als „wichtiges Tatmotiv“.

Dabei sind gerade Geldsorgen in dieser Generation ein Tabuthema. Das ist einer der Gründe, warum ertappte Delinquenten sich häufig mehr schämen als ihre Jahrzehnte jüngeren „Kollegen“. In der Regel lebten sie lange hinter der Fassade des rechtschaffenen Rentners, der schon über die Runden kommt, verbargen ihre Not selbst vor den eigenen Kindern. Hilflos und hoch emotional reagieren sie deshalb auf ihre Entdeckung.

Die Polizei, fordert Arnold Plickert, müsse ihre Ausbildung und ihre Strukturen darauf einstellen: „Es ist etwas anderes, ob wir es am Tatort mit einem 70-Jährigen zu tun haben oder mit einem 22-Jährigen.“

Er selbst beobachtete am Heiligabend die Begegnung einer Streife mit einer alten Frau vor einem Supermarkt. Wahrscheinlich Ladendiebstahl. Ein „Mütterlein“, sagt Plickert, „fix und fertig“.