Leverkusen. .

David Behre wippt. Mit den Beinen. Ganz leicht, aber unübersehbar. Wie immer, wenn er in der Sporthalle ist. Nervös? Behre grinst, schüttelt den Kopf zeigt nach unten. „Liegt an diesen Dingern, damit kannst du nicht stillstehen“, sagt er. „Ist technisch bedingt.“ Denn wo andere Menschen ihre Füße haben, hat der 27-Jährige viele Stunden am Tag zwei leicht federnde Stelzen, die geformt sind wie die Hinterläufe einer Raubkatze. „Lange Geschichte“, sagt er. Und anfangs keine schöne. Aber Behre erzählt sie gerne.

Sie beginnt im Morgengrauen eines trüben Septembersamstages des Jahres 2007 in Moers. Mit dem Fahrrad ist David damals unterwegs, hat noch 400 Meter bis nach Hause. Nur über einen achtgleisigen Bahnübergang muss er noch. Schwer einsehbar sind die Gleise dort. Sträucher und Lagerhallen versperren die Sicht. Aber David tritt in die Pedale. „Die Schranken waren ja oben“, sagt er. Was die Bahn übrigens bis heute nicht zugeben will. Das Letzte, an das David sich später erinnert, ist das Schild „80 Meter bis zum Bahnübergang“. Und an „ein dumpfes Geräusch im Kopf“. „Wie ein Schlag.“

Es ist der Augenblick, in dem sein altes Leben endet.

Über die nächsten Sekunden und Minuten hat sein Gedächtnis gnädig den Mantel des Vergessens gehängt. „Keine Bilder im Kopf“, bestätigt David. Bis zu der Minute, in der er – Stunden später – in einem Dornenbusch wach wird, aufstehen will, aber es nicht schafft. „Da habe ich auf meine Beine geguckt und gemerkt: Scheiße, keine Füße mehr dran.“ Ein vorbeifahrender Zug hat ihn erfasst, hat sie ihm abgerissen. Den rechten nach knapp 120 Metern, den linken 23 Meter weiter geschleudert, wie die Polizei später rekonstruiert.

Mit letzter Kraft robbt David zurück auf den Bahndamm, ruft um Hilfe. Kurz vor knapp wird er von einer Anwohnerin gerettet. „30 Minuten später wäre ich tot gewesen.“ Dass David überhaupt überlebt hat, nennen seine Ärzte später „ein Wunder“. Behre erholt sich schnell und sieht auf dem Krankenbett ein paar Tage nach dem Unfall eine Dokumentation über Oscar Pistorius im Fernsehen.

Es ist der Augenblick, in dem sein neues Leben beginnt.

„Ich wusste sofort, das will ich auch machen.“ Kein Fußball mehr und kein Motorcross wie früher, sondern Leichtathletik. Ein „Sprint zurück ins Leben“, wie David es in seinem gerade veröffentlichten Buch nennt.

Doch bevor er rennen kann, muss er wieder gehen lernen. Der Umgang mit den Prothesen aber ist schwieriger und schmerzvoller als gedacht. „An manchen Tagen bin ich durch die Hölle gegangen.“ Trotzdem geht David immer weiter. „Und irgendwie“, sagt er heute, „ist eins zum anderen gekommen.“

Auf einer Party lernt er Heinrich Popow kennen, viermaliger paralympischer Medaillengewinner im Weitsprung. Über ihn kommt er 2008 zu Bayer 04 Leverkusen, schon lange ein Vorzeigeverein für Behindertensport in Deutschland. Dort erkennen sie sein Talent, fördern es. Mithilfe von Sponsoren bekommt David Sprintprothesen. Ein paar Minuten soll er sie am ersten Tag tragen. Er läuft fünf Stunden damit herum. Und er läuft immer schneller. „Am liebsten aber 400 Meter.“ Bei den paralympischen Spielen in London holt er Bronze mit der Staffel. In Rio will er 2016 eine Einzelmedaille, in Tokio 2020 auch. Pläne für die Zeit danach gibt es auch schon. „Ich würde gerne ein Reha-Zentrum aufbauen speziell für junge Menschen, die einen schweren Unfall hatten“, blickt David in die Zukunft. „Als Betroffener kann man besser helfen.“ Vor allem psychisch: „Wie soll ein Psychologe mit zwei gesunden Beinen wissen, wie ein Amputierter sich fühlt?“ Behre weiß es. Auch deshalb hat er das Buch geschrieben. „Um Menschen mit ähnlichem Schicksal zu zeigen, dass das Leben weitergeht. Mitleid brauche ich jedenfalls nicht.“

Keine Schwierigkeiten mit dem anderen Geschlecht

Warum auch? David kann laufen, kann tanzen. Er spielt Fußball, geht schwimmen, fährt Fahrrad und Auto. Und mit den Frauen gibt es auch keine Schwierigkeiten. „Ich habe jedenfalls noch keine getroffen, die mit meiner Behinderung Probleme hatte“, sagt David.

Manchmal fragt er sich, wie sein Leben wohl ohne den Unfall weitergegangen wäre. „Wahrscheinlich wäre ich heute Informatiker und ein mittelmäßiger Motorcross-Fahrer“, mutmaßt er. Nicht in Trainingslagern rund um den Globus, nicht als Gast in Talkshows, nicht der zweitschnellste Mann ohne Füße auf der Welt. Vielleicht sagt Behre auch deshalb einen Satz, von dem er weiß, dass er makaber klingt. „Mir geht es so gut. Ich will meine echten Beine gar nicht mehr zurück.“