Der Oktober kann die perfekte Zeit zum Wandern sein - wenn er sich denn von seiner goldenen Seite zeigt. Er kann aber auch unwirsch nass und kalt auftreten. Unser Reporter Matthias Maruhn erlebt auf dem Rothaarsteig beides.

Das Wort Herbst bedeutet eigentlich Erntezeit. Und noch vor 40, 50 Jahren sprachen die Kinder von Kartoffelferien und freuten sich nur bedingt darauf, weil sie dann mit raus mussten aufs Feld und anpacken, Kartoffeln sammeln. Heute heißt es Herbstferien, und es gibt eine Menge Leute, die nicht unbedingt in den Süden düsen wollen, sondern die Zeit im Lande, in der Natur verbringen wollen, zum Beispiel auf einer Wanderung.

Die NRZ hat einen Reporter losgeschickt, sich einen der populären Wandersteige mal vorzunehmen. Den Rothaarsteig von Brilon im Sauerland bis nach Dillenburg, 154 Kilometer, sieben Tage über Stock und Stein. Aus gutem Grund hat die NRZ ihren ältesten Reporter losgeschickt, einmal, weil Matthias Maruhn vor zwölf Jahren bei der Eröffnung des Steiges eine Woche mit Lesern auf der Strecke unterwegs war, andererseits, weil er mit seinen 56 Jahren vielleicht auch vom Lebensalter her ein wenig mehr vom Herbst weiß.
Hier die Berichte von den ersten beiden Etappen:

Etappe 1: Brilon-Willingen (ca. 25 km)

Gleich hinter Bestwig wird es einsam im Zug nach Brilon. Außer mir ist nur noch ein alter Mann mit Zipfelmütze und Lederrucksack da. Er spricht nicht. Ich auch nicht. Wir glotzen beide still nach draußen und werden belohnt. Die Welt wird zur Modellbahn, durch weite Kurven schiebt sich der Zug ins Mittelgebirge hinauf. Dann schießt plötzlich die Sonne durch die Wolken und überall ist dieser Glanz aus gelb und rot, und ich weiß in der Sekunde: Hier bin ich richtig, hier will ich sein, hier werde ich als Herbstsucher fündig, hier kann die Seele wandern.

Beim ersten längeren Anstieg auf dem Rothaarsteig dann werde ich schnell wieder geerdet. Ich habe Wochen keinen Sport gemacht und meine Gelenke scheinen verleimt zu sein. Ich stöhne die Steigung hinauf und erschrecke oben eine Familie, die wohl nur kurz spazieren geht. Lange Haare, kurze Hose, Wanderstock, die Kinder sind von dem Waldschrat kräftig beeindruckt. Kaum bin ich vorbei, höre ich ein „Papa, was war das denn für ein....“ „Pssst“ sagt Papa energisch und flüstert so, dass ich leider nichts mehr verstehe.

An der nächsten Biegung sitzen Heidi und Wilfried auf einem Baumstamm und gucken freundlich. „Na, auch auf dem Steig unterwegs?“ Sie bieten mir geschnittenes Obst an, das gefällt mir und und ich gehe eine Zeit längsseits. Sie kommen aus Solingen und sind geübte Wanderer, jetzt also Rothaarsteig. Sie haben auch Kinder um die 30, und so sprechen wir 800 Meter von deren Kindheit und was wir alles richtig gemacht haben, dann folgen zwei Kilometer Pubertät und unsere vielen Fehler und Zweifel, schließlich 400 Meter über das Jetzt und dass sich doch alles zum Guten gewendet hat. Schicksale und Wege einen.

Kurz vor den Bruchhauser Steinen bin ich wieder allein. Dann geht’s wieder mächtig in die Waden und bergan, hinauf zum Richtplatz. Nur wenige Menschen sind unterwegs, es sind vielleicht zehn, denen ich an diesem Tag begegne. Das ist schön, es lässt Zeit zum Denken, Grübeln. Die Sonne legt noch mal ein paar Kohlen nach, das wärmt den Pelz des späten Wanderers, dessen Herz nun frank und frei wird, zumal es die letzten Kilometer nach Willingen nur bergab geht. Ein perfekter erster Tag.

Etappe 2: Willingen-Winterberg(ca. 23 km)

Es hat sich zugezogen über dem Sauerland. Meistgehörter Satz des Tages: Ja, jetzt ist es wirklich Herbst. Kalt ist es aber nicht, zumal zunächst auf dem Steig die Steigung zum Langenberg genommen werden muss, keine alpine Herausforderung, aber mit 843 Meter der höchste Punkt in NRW. Oben dann wird es wirklich windig, ich muss die Jacke schließen, meine Knochen schmerzen, ich fühle mich alt, dann fängt es leicht an zu nieseln, und die Stimmung sinkt wie ein Stein im See.

Ich schaue ihm nach und sehe auf der Oberfläche mein Gesicht, in dem Worte zu lesen sind wie Rentenchaos, Seniorenteller und Bärenticket. Ich erschrecke mich vor mir selber. Nein, der Herbst wird dich nicht kleinkriegen, ich schreite kräftiger aus, biege um die Ecke und laufe ins Laubige hinein. Gelb, rot, braun, ich werde farbenfroh, zudem stapeln sich die Blätter in Flokati-Dicke, ich bin plötzlich wieder sechs Jahre alt und schieße das Laub in alle Richtungen.

Am liebsten würde ich mich hineinwerfen, weiß aber nicht, ob ich ohne Hilfe wieder hochkomme mit den maroden Knochen. An der Ruhrquelle schließlich ist Picknick-Zeit, Heidi und Wilfried sind auch wieder da. Es nieselt, aber auch die beiden scheren sich nicht darum, das gefällt mir. Bis Winterberg ist es noch ein Sprung. Und morgen? Morgen soll es so richtig Herbst werden. Mal schauen...