Duisburg. . Einst sind die Tafeln angetreten, um überflüssige Lebensmittel vor dem Müll zu retten und sie den Menschen zukommen zu lassen, die wenig bis nichts haben. Mittlerweile jedoch gibt es immer mehr Behörden, die diese milden Gaben in ihre Berechnungen einbeziehen wollen. Die Tafeln jedoch wehren sich.
Manchmal verliert Günter Spikofski den Glauben an seine Kollegen. „Da kam eine Sozialarbeiterin mit einer jungen Frau und sagt: Die hat einen Anspruch auf Lebensmittel...“ Sozialarbeiter Spikofski, Geschäftsführer der Duisburger Tafel, kehrte kurz den Juristen hervor: Anspruch auf Brot, Gemüse, Joghurt von der Tafel hat niemand. Hier wird geholfen. Nicht wegen der Ansprüche, sondern, um Not zu lindern.
„Eigentlich müssten wir auch etwas für die Armutsflüchtlinge aus Bulgarien und Rumänien tun“, sagt Spikofski. So, wie die Tafel damals angefangen hat, als Suppenküche für wohnungslose Jugendliche. Doch nach fast 20 Jahren wird die Tafel als selbstverständlich wahrgenommen. „Ich hatte schon Sachbearbeiter am Telefon, die wollten wissen, für wie viel Euro Herr Müller denn bei uns Lebensmittel bekommt.“
Die Not der öffentlichen Kassen macht erfinderisch: Wenn Menschen regelmäßig Essen von der Tafel bekommen, könnte man doch den Hartz-IV-Satz kürzen. Genau da beginnt für den Soziologen Professor Fabian Kessl die Gefahr der Hilfen von Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern: Der Staat klopft den Helfern anerkennend auf die Schulter – und dreht sich weg, Bundesministerin Kristina Schröder sprach zum 20-jährigen Geburtstag freudig das Grußwort, schließlich ist sie Schirmherrin.
Die Tafeln bedienen ihr Klientel: Familien, Senioren, Jugendliche. Doch sie öffnen dem Staat auch die Chance zum Rückzug: Bürgerschaftliches Engagement schützt Menschen vorm Verhungern, ist doch okay. Privat vor Staat auch im Keller des Staatsgebäudes. Zwischen den Grundmauern.
„Eigentlich ist es unsere Aufgabe, uns selbst überflüssig zu machen“, sagt Spikofski. „Aber dem, der heute Hunger hat, kann ich nicht sagen: In fünf Jahren ist dein Problem gelöst.“ Lebensmittel anbieten, ins Leitbild schreiben, was Anspruch ist: „Die Verhinderung und Bekämpfung von Armut ist vorrangig eine Aufgabe des Staates und seiner Organe. Die Arbeit der Tafeln entbindet den Staat nicht von seiner Daseinsfürsorgepflicht“, so beschreibt die Duisburger Tafel das gelebte Dilemma.
450 Kilometer für gespendete Wurst
Der Spagat geht weiter: An vielen Orten ist die Caritas Träger der Tafel, der Diözesanverband Limburg und die Caritas Köln sind jedoch Mitglieder im „Kritischen Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln“. Sie fürchten ein Hilfssystem, das sich zu fest etabliert. Dafür gibt es viele Indizien: Jeden Donnerstag bekommt die Tafel Essen Besuch aus Naumburg/Saale. 450 Kilometer entfernt. Es geht um die Wurst, die hier in Massen gespendet wird und dort fehlt. Kein Einzelfall in der bundesweiten Tafellogistik. Die Tafel Duisburg hat drei Angestellte, im Bundesverband der Tafeln sitzen sieben hauptamtliche Kräfte. Arbeiten die mit allem Ehrgeiz daran, schnell arbeitslos zu werden?
Zahlen zu diesen oft zumeist von Ehrenamtlichen getragenen Einrichtungen gibt es wenige. Wissenschaftler der Universität Duisburg-Essen sowie der Technischen Universität Dortmund wollen das ändern. Erste Daten? Zwar sieht es so aus, als ob es einen Zusammenhang zwischen dem Anteil der Hartz-IV-Bezieher und der Zahl der Hilfsangebote ist, aber belastbar sei diese Einschätzung nicht. Wie genau die Hilfslandschaft aussieht, soll eine Untersuchung von Städten aller Größenordnung in fünf Bundesländern zeigen. Vermutlich lässt sich der Wissensdurst schneller stillen als das Hungergefühl der Menschen, die auf die Tafeln angewiesen sind.
Jemand, der sich mit der Materie besonders ausführlich auseinandergesetzt hat, ist, Professor Fabian Kessl, Direktor des Instituts für Soziale Arbeit und Sozialpolitik an der Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen.
Prof. Fabian Kessl, was ist Mitleidsökonomie?
Fabian Kessl: Damit versuchen wir ein Phänomen auf den Begriff zu bringen, das sich in den letzten beiden Jahrzehnten in Deutschland, aber auch international, etabliert hat: Ein System der existenzsichernden Hilfen, zum Beispiel Kleiderkammern, Suppenküchen und die „Tafeln“: man muss sich vor Augen führen, dass es allein etwa 900 beim Bundesverband registrierte Tafeln gibt, deren Angebot nach Aussage des Bundesverbandes täglich von 1,5 Millionen Menschen genutzt wird. Mit dem Effekt, dass es mittlerweile für manche Tafeln schwierig wird, genügend Lebensmittel bereitzustellen.
Wo ist das Problem? Da werden Lebensmittel verwendet, die sonst weggeworfen würden.
Kessl: Das Problem ist, dass sich mit dem Aufbau dieser neuen Mitleidsökonomie etwas im Sozialsystem verändert, vor allem für die Betroffenen. Sie verfügen nicht mehr über einen Rechtsanspruch: Bei Angeboten wie den Tafeln oder einer Suppenküche sind sie nur noch der dankbare Empfänger einer Gabe – sie sind vom Mitleid anderer abhängig. Daher sprechen wir von Mitleidsökonomie. Deswegen ist der Gang zur Tafel für viele mit Schamgefühlen verbunden. Ich halte diese Entwicklung für einen zivilisatorischen Rückschritt.
Das heißt: Tafeln, Kleiderkammern und Suppenküchen verändern die soziale Landschaft?
Kessl: Wir untersuchen derzeit Angebote in 30 repräsentativ ausgewählten Städten aller Größen. In Großstädten gibt es teilweise über 100 solcher Angebote. Da ist ein ganzes System der Existenzsicherung auf Basis von Spenden entstanden, wie wir es uns vor 20 Jahren noch nicht hätten vorstellen können. Die Menschen, die sich in den Kleiderkammern, in Suppenküchen oder Tafeln engagieren, sind hoch motiviert.
Sie tun in ihren Augen nur Gutes und sehen ihre Arbeit auch als Kritik an unserer Überflussgesellschaft. Es geht uns nicht darum, das schlecht zu reden. Aber das ehrenamtliche Engagement ist nur die eine Seite. Denn die Nutzer der Tafeln berichten anderes: Sie fühlen sich unangemessen kontrolliert, abhängig und eben beschämt. Das übersehen die Ehrenamtlichen oft. Daher braucht es den kritischen Blick, auch auf die Motivation der Spender. Denn die sparen oft nicht nur die Entsorgungskosten, sie erhalten oft auch eine Spendenquittung und ein positives Image. Hier wird mit Armut, zumindest indirekt, auch Geld verdient.