Bonn. . Vor drei Jahren wurde die neunjährige Anna aus Bad Honnef von der eigenen Pflegemutter in der Badewanne ertränkt. Vorausgegangen waren mehrere Monate, in denen das Mädchen misshandelt worden war. Nun soll das Bonner Landgericht herausfinden, ob das Jugendamt - in Person einer Mitarbeiterin - eine Mitschuld trägt.
Nur Menschen können vor Gericht stehen, nicht Institutionen. Warum gerade ich, wird sich Susanne G. gefragt haben. Aber sie war nun mal, inmitten der Institution Jugendamt Königswinter, für das Mädchen Anna die „fallzuständige Fachkraft“, und Anna ist tot. Die Neunjährige wurde von ihrer Pflegemutter in der Badewanne ertränkt.
Auch heute noch, drei Jahre nach dem spektakulären Fall, fragt sich jeder hier im Verhandlungssaal des Landgerichts Bonn, ob Anna noch leben könnte, wenn die Sozialpädagogin Susanne G. besser aufgepasst, schneller geschaltet, hartnäckiger nachgefragt hätte – könnte, hätte... Die Staatsanwältin jedenfalls sieht genug Punkte, anzuklagen: Sie zählt „fahrlässige Körperverletzung im Amt durch Unterlassen“ in 26 Fällen auf, dazu Urkundenunterdrückung. Nach Annas Tod soll Susanne G. belastendes Aktenmaterial vernichtet haben.
Die Angeklagte schließt die Augen
Die 46 Jahre alte Angeklagte sagt zunächst mal nichts, lässt ausrichten, dass sie das später tun will, umfassend. Susanne G. ist eine gepflegte Frau in grauem Hosenanzug mit blond-gesträhnter Kurzhaarfrisur, roter Brille und rotem Lippenstift.
Sie schaut direkt ins Publikum, ohne eine Miene zu verziehen, nur einmal während der knappen Stunde des ersten Verhandlungstages stützt sie den Kopf in die Hände und schließt die Augen. Bei einer Formalie - der Vorsitzende Richter teilt den Verfahrensbeteiligten mit, dass es eine CD mit Fotos von der Obduktion der misshandelten Anna gibt.
Anna war seit 2006 beim Jugendamt aktenkundig
Seit 2006 war Anna beim Jugendamt Königswinter aktenkundig. Weil ihre Mutter alkoholkrank ist, ihr Vater an Drogenmissbrauch starb, lebte das kleine Mädchen zeitweise im Heim. Ab 2008 nahm die Familie W. Anna auf Bitten des Jugendamtes als Pflegekind auf. Susanne G., schildert die Staatsanwältin, habe die Aufgabe gehabt, die Pflegefamilie „zu überprüfen, sie zu begleiten und ihr beratend zur Seite zu stehen“.
Doch es muss vieles schief gelaufen sein in den zwei Jahren bis zum 22. Juli 2010, dem Todestag Annas. Susanne G., so die Anklage, habe wenig mitbekommen, und wenn es Alarmzeichen gab, sei sie ihnen nicht nachgegangen. Pflegemutter Petra W., mit der Betreuung überfordert und von der Idee besessen zu beweisen, wie „gut“ sie Anna doch erziehen kann, greift mehr und mehr zu Gewalt. Anna wird geschlagen, gefesselt, zum Essen gezwungen und unter Wasser gedrückt, um sie gefügig zu machen.
Zu viert in dreieinhalb Räumen
Für die Staatsanwältin ist bereits der Umstand, dass die Pflegefamilie zu viert in viel zu kleinen dreieinhalb Räumen wohnte ein Anlass, an der richtigen Unterbringung Annas zu zweifeln. Anfängliche Anrufe der Pflegemutter beim Jugendamt, sie käme mit Anna nicht klar, seien ignoriert worden.
Ohne Überprüfung habe Susanne G. später den Erklärungen der 130 Kilo schweren Pflegemutter geglaubt - zum Beispiel, dass eine Psychologin ihr geraten hätte, die dünne Anna zum Essen zu zwingen; dass Anna sich selbst verletzte; dass Anna erbreche, wenn sie ihre leibliche Mutter sehen müsste; dass Anna Angst vor Wasser habe, und nur mit Gewalt geduscht werden könne...
Sie habe wenig kindgerechte Briefe nicht hinterfragt, in denen Anna schrieb, wie wohl sie sich bei Petra W. fühle. Und sie sei Hinweisen von Lehrern, der Polizei und Nachbarn, die auf Annas Leiden hätten hinweisen können, nicht nachgegangen. Schließlich habe sie kein einziges Mal mit Anna an neutralem Ort alleine gesprochen.
Auch gegen den Amtsleiterwurde ermittelt
Susanne G.’s zweiter Verteidiger ist Thomas Mörsberger. Der 66-Jährige war Leiter des Landesjugendamts Baden, ist Fachautor für Sozialrecht und einschlägig erfahren in derartigen Verfahren.
Für seine Mandantin gibt er eine Erklärung ab, spricht von ihrer „großen Belastung“, ob sie dieses Verbrechen nicht doch hätte verhindern können. Er weist darauf hin, dass auch gegen den Jugendamtsleiter und andere ermittelt worden sei, Susanne G. aber sei übrig geblieben, als solle „mit der Bestrafung einer Person einer Institution Beine gemacht werden“.
Und er spricht von der „originären Aufgabe“ der Jugendämter, nämlich „Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder zu helfen“. Dies erfordere ein hohes Maß an Vertrauen, sei aber auch riskant. Durch die „starke Rechtsposition“ von Eltern und Pflegeeltern gebe es immer wieder „krasse Einzelfälle“, bei denen Kinder zu Schaden kommen, ohne dass es verhindert werden konnte. In der Öffentlichkeit halte sich dagegen das Klischee von einer „Kinderschutzpolizei“. Hier werde keine „besonders schwere Straftat“ verhandelt, so Mörsberger, im Hinblick auf den Alltag der Jugendämter jedoch bekomme der Fall „grundsätzliche Bedeutung“.