An Rhein und Ruhr. . Die NRW-Schulministerin äußert sich zu Vorwürfen, die Wochenstundenzahl im G8-Jahrgang sei viel zu hoch und die Kernlehrpläne seien nicht genügend ausgemistet worden. Sie sagt: „Wir reparieren die Uhr, während sie tickt“ und erklärt, warum die Schulzeitverkürzung trotz aller Kritik funktioniert.

Am Dienstag (9. April) beginnen in Nordrhein-Westfalen die Abiturprüfungen. Der doppelte Abiturjahrgang stellt die Gymnasien im ganzen Land vor große organisatorische Herausforderungen. Vor allem beim Thema der Umsetzung von G8 in NRW wurden Proteste laut. NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Bündnis 90/Die Grünen) nimmt zu sechs häufig genannten Vorwürfen Stellung:

Vorwurf 1: Die Wochenstundenzahl ist im G8-Jahrgang viel zu hoch.

Sylvia Löhrmann: Ich möchte zu Beginn erst einmal grundsätzlich betonen, dass ich den Ärger vieler Eltern, Schülerinnen und Schüler und auch der Lehrkräfte über das G8 gut nachvollziehen kann. Wir reparieren die Uhr, während sie tickt. Es geht jetzt darum, das von der schwarz-gelben Vorgängerregierung überhastet und schlecht vorbereitet eingeführte G8 insbesondere für die Schülerinnen und Schüler besser zu gestalten.

Nun zu Ihrer Frage: Die Wochenstundenzahl zur Erlangung der Allgemeinen Hochschulreife, und damit das erforderliche Mindestmaß für die gegenseitige Anerkennung des Abiturs in den Bundesländern, ist in der Kultusministerkonferenz vereinbart worden. Das sind 265 Wochenstunden. In Nordrhein-Westfalen entfallen davon 163 Stunden auf die Sekundarstufe I, 102 Stunden auf die Sekundarstufe II.

Um dennoch genügend Freiraum zur Verwirklichung persönlicher Interessen zur Verfügung zu haben, wurde in der Sekundarstufe I der Nachmittagsunterricht in den Klassen fünf und sechs auf einen Nachmittag und in den Klassen sieben bis neun auf maximal zwei Nachmittage die Woche begrenzt.

Vorwurf 2: Die Kernlehrpläne wurden nicht genügend ausgemistet. Die Schüler müssen viel zu viel Stoff lernen.

Löhrmann: Die Kernlehrpläne der Sekundarstufe I wurden gezielt auf einen verkürzten Bildungsgang hin angelegt. Sie konzentrieren sich auf eine Beschreibung dessen, was Schülerinnen und Schüler können sollen – und bieten den Schulen damit einen Rahmen, in dem sie situationsangemessen schuleigene Lehrpläne erstellen können. Auch hier gilt: Der Anpassungsprozess läuft noch.

Vorwurf 3: G8-Schüler sind bestimmten Fachinhalten, zum Beispiel in Pädagogik, nicht gewachsen, weil sie zu jung sind und ihnen ein Jahr Lebenserfahrung fehlt.

Löhrmann: 18 Gymnasien in Nordrhein-Westfalen haben im vergangenen Jahr bereits Schülerinnen und Schüler durch das Abitur nach acht Jahren geführt. Dabei gab es keine nennenswerten Leistungsunterschiede zwischen G8 und G9. Auch die Ergebnisse von Vergleichsarbeiten, die Schülerinnen und Schüler im verkürzten und im unverkürzten Bildungsgang zu Beginn der Qualifikationsphase geschrieben haben, zeigen: Es gibt keine signifikanten Leistungsunterschiede zwischen G8 und G9.

Vorwurf 4: G8-Schüler haben viel zu wenig Freizeit. Das schadet ihrer Persönlichkeitsentwicklung. 

Löhrmann: Zwölf Jahre bis zum Abitur sind internationaler Standard. Wir unterstützen die Gymnasien bei der Umsetzung der Schulzeitverkürzung und haben dazu ein sieben Punkte umfassendes Handlungskonzept erarbeitet. Das umfasst beispielsweise das Gleichgewicht zwischen Hausaufgaben und Lernzeiten und die konkrete Umsetzung der curricularen Vorgaben in der Praxis. Außerdem bieten viele Schulen im Rahmen des Ganztags vielfältige Angebote für die Schülerinnen und Schüler, damit sie ihre Interessen auch über den Unterricht hinaus verwirklichen können.

Vorwurf 5: Der schulische Druck ist so hoch, dass Jugendliche Freizeitangebote wie Sport, Musik oder Ehrenämter aufgeben.

Löhrmann: Viele Schulen kooperieren mit Anbietern von Freizeitangeboten, wie Vereinen oder Musikschulen. Vor allem Ganztagsschulen gehen diesen Weg. Alle Gymnasien haben Konzepte entwickelt, die zur zeitlichen Entlastung der Schülerinnen und Schüler führen sollen. Dabei unterstützt das Schulministerium die Gymnasien weiterhin. Ein kürzlich durchgeführter Workshop mit Eltern- und Lehrerverbänden hat bestätigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Vorwurf 6: In „Reifeprüfung“ steckt das Wort „Reife“. Wenn in Zukunft 17-Jährige an die Universitäten gehen, kann man nicht von Reife sprechen.

Löhrmann: Die persönliche Reife lässt sich nicht an einem fixen Alter festmachen. Etliche Jugendliche nutzen die Zeit nach dem Abitur für das freiwillige Soziale oder Ökologische Jahr oder einen Auslandsaufenthalt.

In Nordrhein-Westfalen sind 13 Schulen im Rahmen eines Schulversuchs zum Abitur nach neun Jahren zurückgekehrt. Diese Möglichkeit war einmalig, die anderen über 600 Gymnasien in NRW haben sich entschieden, den verkürzten Bildungsgang G8 weiter umzusetzen. Das Abitur nach neun Jahren kann man grundsätzlich an Gesamtschulen, Sekundarschulen und Berufskollegs ablegen. Neue Kernlehrpläne für die gymnasiale Oberstufe in NRW sollen, so das Schulministerium, zum Schuljahr 2014/2015 in Kraft treten.