Zehn Jahre alt ist Odfried, als er das erste Mal im Keller mit den Nazis singt. „Einst lagen die alten Germanen zu beiden Seiten des Rheins. Da trat in ihre Mitte der Jude Ben Gurion. Heil Hitler ihr alten Germanen ich bring euch die siebte Million.“ Das Lied hat Odfried Hepp noch heute im Ohr.

Odfried Hepps Eltern haben sich getrennt, es ist 1970 und der Junge bleibt als einziges von fünf Kindern beim Vater. Der Kleine ist Mitglied im Deutschen Wandervogel. Im Keller singen die naturverbundenen Knaben der bündischen Jugend und der Deutschgläubigen Gemeinschaft. Mit dabei sind ehemalige SS-Angehörige. Die singen das Lied mit der siebten Million.

Auf der anderen Straßenseite wohnen Jungs im selben Alter, die sich bei den Jungen Nationaldemokraten der NPD engagieren. So kommt Odfried auch mit dem Bund Heimattreuer Jugend in Kontakt, Standort Schwarzwald. Gleich 1970 fährt Odfried ins 14-tägige Pimpfenlager nach Flandern. Lagerführer ist Uwe Berg. Der führt heute noch einen rechten Buchverlag. Ins Lager fahren die BHJ-Kinder stets gemeinsam mit der Wiking-Jugend. Die Programmhefte triefen vor Nationalismus. Viele Fotos zeigen Jungs und Mädchen beim Sport, mit Fahnen oder Trommeln. Unter einem steht: „Unser Führer-Nachwuchs“.

"Dadurch seid ihr den Stubenhockern im täglichen Leben überlegen. Kommt zu uns! Kämpft mit uns! Die Zukunft unseres Volkes ist immer noch die Jugend.“ (Fahrtenplan des Bundes Heimattreuer Jugend, 1974)

Die Jungen und Mädchen tanzen und singen nach deutscher Tradition. An Heimabenden hören die Kinder Vorträge über die weltpolitische Lage. Im Oktober 1974 ist Portugal dran. Die Überschrift: „Weg in die Linke Diktatur“. Ein halbes Jahr später, am 20. April, reden die Jungs über Adolf Hitler. Mittlerweile ist Hepp Standortführer, er hat den Vortrag vorbereitet. In Handschrift notiert er sich, über was er mit den Jungs unbedingt sprechen will: „Welche Vorteile bringt der Nationalsozialismus dem deutschen Volke?“

Gemeinsam schauen die Jugendlichen den Nazi-Propaganda-Film „Triumph des Willens“. Dazu machen sie Wehrertüchtigung. 25 Kilometer Zielmarsch mit fünf Kilo Gepäck und Orientierung nach Karte und Kompaß. Kommt zu uns! Kämpft mit uns! Odfried folgt.

500 bis 1000 Jugendliche sollen damals Mitglied im Bund Heimattreuer Jugend gewesen sein, der in engem Kontakt stand mit der NPD und anderen rechtsextremen Organisationen. Odfried Hepp (und Martina Rabelo) verlieren sich als Kind eher zufällig in diesem Milieu und brauchen doch Jahrzehnte, um sich daraus zu befreien.

„Nationalbewusstsein bedeutet, den Völkern näherzustehen, die mit dem eigenen verwandt sind, also daß uns Deutsche die nordisch-geprägten Völker näherstehen als andere, weiße Völker und diese uns wiederum viel näher als andersrassige.“ (Heft des Bundes Heimattreuer Jugend, Siebziger Jahre)

Rechtsradikale Jugendbünde wie der Bund Heimattreuer Jugend (BHJ) und die Wiking-Jugend zogen hunderte Kinder wie Odfried Hepp in ihrem Geiste groß. Ähnlich der Hitler-Jugend: in Zeltlagern, an Heimabenden, mit Sport- und Wissenskämpfen. Eine der Nachfolgeorganisationen des Bundes Heimattreuer Jugend gibt es noch heute. Sie nennt sich Freibund.

Morgenappell, Lagerfeuer, Akkordeon und Harfe
Im Netz präsentiert sich dieser Freibund traditionsbewusst, aber unpolitisch. Die Videos, Texte und Fotos auf den Webseiten des Freibundes sind auf den ersten Blick nicht rechtsextrem. In langen, dunklen Kleidern ziehen Jugendliche im Fahrtenvideo einen Hügel hinauf, einige tragen Fahnen mit der untergehenden Sonne auf schwarzem Grund, dem Symbol des Bundes. Frühmorgens startet der Tag mit dem Morgenappell, am Abend lodert ein großes Feuer, Kinder und Jugendliche tanzen zum Akkordeon oder lauschen der Harfe. Das alles erinnert an die Lager, die Odfried Hepp und Martina Rabelo (Rabelos Geschichte erzählen wir hier) in ihrer Jugend besuchten. Wer mit den beiden spricht, merkt: Die Grenze zwischen national und rechtsextrem ist schmal.

„25. Mai: Schlageter Gedenkfeier. Um dem großen Deutschen Albert Leo Schlageter zu gedenken, treffen sich die BHJ-Gruppen im Süddeutschen Raum in Schönau Südschwarzwald.“ (Fahrtenplan des Bundes Heimattreuer Jugend, 1975)

Odfried Hepp war bei den Treffen des früheren Freibundes, des BHJ, stets ganz vorne mit dabei. In seiner Jugend geht er jedes Jahr zur Schlageter-Gedenkfeier. „Um dem großen Deutschen Albert Leo Schlageter zu gedenken. Nie war die Verwahrlosung der nationalen Haltung größer als in unseren Tagen“, steht 1974 im Programm. Schlageter gehörte in den 1920er Jahren zu verschiedenen Freikorps, zu paramilitärischen Einheiten, die im Untergrund gegen die Besatzer kämpften. Schlageter sprengte Eisenbahnstrecken im Ruhrgebiet, um den Abtransport von Kohle und Stahl durch die französischen Besatzer zu verhindern. Auch einen Mord in Essen soll er begangen haben. 1923 wird Schlageter getötet.

Odfried und seine Freunde ehren das NSDAP-Mitglied in den 70er Jahren als Märtyrer, jeden Mai in dessen Geburtsort Schönau. Noch heute gibt es diese Feiern. Als Jugendlicher verschlingt Odfried Hepp Literatur zu den Freikorps. Bewaffneter Widerstand gegen die Besatzungsmächte, das ist es, was er und seine engsten Kameraden wollen. 1976 fährt Hepp, 18 Jahre alt, zur Bundesführerschulung des Bundes Heimattreuer Jugend. Dort streitet er sich mit der Spitze des Jugendbundes, sie ist ihm politisch nicht radikal genug, und schließt sich der klar neonazistischen Wiking-Jugend an.

„In der Wiking-Jugend werden heute die Verantwortlichen von morgen erzogen. Ausdauernd und zäh geht sie ihren Weg.“ (Faltblatt der Wiking-Jugend, Siebziger Jahre)

Hepp wird immer extremer, andere Kameraden denken über Anschläge nach, hetzen gegen Ausländer und Juden. Im September 1979 flieht Hepp bei einer Hausdurchsuchung in Karlsruhe, kommt aber nur ein paar hundert Meter weit. Die Polizei findet Neonazi-Hetzschriften und steckt ihn vier Monate in Untersuchungshaft. Nach der Freilassung trifft Hepp in Nürnberg auf Karl-Heinz Hoffmann und geht im Sommer 1980 mit einigen ehemaligen Mitgliedern der verbotenen Wehrsportgruppe Hoffmann in den Libanon. Die rechtsextreme Kampfgruppe bereitet sich dort gemeinsam mit palästinensischen Freiheitskämpfern auf den “Nationalen Befreiungskampf” vor.

Von den Neonazis nach Palästina

Politisch löst sich Hepp in dieser Zeit von den Neonazis – durch den Kontakt mit links gerichteten Palästinensern. Zurück in Deutschland gründet er mit einem Bekannten die „national-bolschewistische Hepp-Kexel-Gruppe“ und raubt rund um Frankfurt mehrere Banken aus. „Mit dem Geld wollten wir eine deutschlandweite politische Organisation aufbauen, mit Büros in fünf Städten“, sagt Hepp. Für politische Aufmerksamkeit sollte ein großer Anschlag nach dem Vorbild der IRA dienen. Nach mehreren kleinen Anschlägen auf amerikanische Militärfahrzeuge und Gebäude werden Hepps Kameraden festgenommen.

Hepp selbst schafft es nach Ost-Berlin und wird Stasi-Mitarbeiter. Weiter flüchtet er durch den Nahen Osten, Nordafrika und Südeuropa – bis zu seiner Verhaftung im April 1985 in Paris. 1987 wird er zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt. In einem weiteren Prozess sagt er als Kronzeuge gegen ehemalige Kameraden und Rechtsterroristen aus, wird 1993 entlassen, stellt sich für ein Buch und einen Film („Der Rebell“) zur Verfügung.

Das ehemalige Mitglied des Bundes Heimattreuer Jugend hatte sich radikalisiert. Anderen ging es ähnlich. 1990 spaltet sich eine Gruppierung ab, sie heißt erst „Die Heimattreue Jugend“, HJ abgekürzt, später dann „Heimattreue Deutsche Jugend“ und wird 2009 verboten. „Das Aus für die HDJ macht Schluss mit dem organisierten Versuch, Kinder und Jugendliche unter kulturellem Deckmantel mit dem Gift des Nationalsozialismus zu infizieren“, sagte der ehemalige Brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm 2009 zum Verbot der Organisation. Enge Verbindungen gab es zur Wiking-Jugend. Diese hatte die Bundesregierung schon 1994 verboten. Wer in der Heimattreuen Deutschen Jugend oder Wiking-Jugend aktiv war, ist für Experten definitiv ein Neonazi.

All diejenigen, die sich 1990 nicht abspalteten, benannten sich von Bund Heimattreuer Jugend in Freibund um. Die Verfassungsschutz-Experten ordnen den Freibund nicht dem Rechtsextremismus zu. Seit 1986 taucht Odfried Hepps ehemaliger Jugendbund nicht mehr in den Berichten des Verfassungsschutzes auf. Die Verfassungsschützer aus NRW sagen, es gebe aktuell keine Erkenntnisse über den Freibund im Sinne einer rechtsextremistischen Tätigkeit. Aber wo sind die ehemaligen Mitglieder von HDJ und Wiking-Jugend hin? Einfach verschwunden? Der Freibund ist die einzige der drei wichtigen nationalen Jugend-Organisationen, die noch offiziell aktiv ist.

„Nordland ist dort, wo Menschen unseres Geistes die Kultur prägen, wo die Jugend Wälle gegen den andrängenden Panslavismus und Orientalismus schuf.“ (Fahrtenplan des Bundes Heimattreuer Jugend, 1971)

Im Freibund gab es Ende der Siebziger Jahre Versuche, die Gruppe liberaler zu führen, wegzukommen vom rechten Rand. Das stieß damals auf Widerstand und einige verließen die Organisation. Was aus den mehreren hundert Mitgliedern geworden ist, lässt sich heute nur in Einzelfällen verfolgen, in die Köpfe kann niemand schauen. Öffentlich gegen den Rechtsextremismus bekannt haben sich die wenigsten. Auf Anfrage zur verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend schreibt der Freibund heute, er habe kein Interesse, “gezielt Teile dieser verbotenen Organisation aufzunehmen, da die Vorstellungen vom Leben im Bund doch deutlich differieren.” Der Freibund schreibt, er sei unpolitisch. “Dennoch kann man mit Sicherheit sagen, dass unsere Vorstellungen im heutigen Wertesystem häufig als konservativ betrachtet werden. In gewisser Weise sind wir somit wertkonservativ. Doch liegt es am Ende beim Einzelnen.”

Ein Sprecher des Freibundes bestreitet per Mail Verbindungen zu Parteien, auch zur NPD. “Der Freibund versteht sich als selbstständiger Jugendbund und lehnt aus dieser Position heraus jedes Zusammengehen mit parteipolitischen sowie weltanschaulichen Gemeinschaften ab.” Selbstverständlich habe der Bund mit verschiedensten Menschen Kontakt. “Doch, wer wen kennt, das halte ich letztlich für Privatsache”, schreibt der Sprecher.

Hat sich die NSU an Nazis in Nadelstreifen gewandt?
Die Aufdeckung der NSU-Mordserie ist mehr als ein Jahr her. Waren Leute wie Odfried Hepp Vorbild für die NSU, für ihren Terror-Feldzug gegen Ausländer? Hat sich die NSU gar an die Nazis in Nadelstreifen gewandt, an die Ehemaligen der nationalen Jugendbünde, die den Freiheitskämpfer Leo Schlageter für seine Anschläge ehren? Experten halten das für unwahrscheinlich. „Die alten Nazis schwätzen wahrscheinlich zu viel“, sagt Wolfgang Gessenharter, der jahrzehntelang als Professor zu Rechtsextremismus geforscht hat. „Eher dürften rechte studentische Verbindungen wie die Danubia der NSU mit Kontakten geholfen haben.“ Kameradschaften wie die Münchner Danubia seien zentral im weit verzweigten Kommunikationsnetz der rechten Szene.

Odfried Hepp hat heute politisch mit der rechtsradikalen Szene nichts mehr zu tun. Wer Hepp in Baden-Württemberg trifft, nimmt ihm die Wandlung vom rechten Terroristen zum eher linken Menschenfreund tatsächlich ab. Nach seiner Zeit im Gefängnis ist er zum studierten Übersetzer für Arabisch und Französisch geworden, er pflegt seine kranken Eltern. Seit Februar 2012 ist Hepp arbeitslos. Als die NSU-Terrogruppe aufflog, flatterte auch sein Name wieder durchs Netz: Ein ehemaliger Bankräuber, der versucht hat, amerikanische Gebäude zu sprengen – das kostete ihn den Job. Hepp verdiente sein Geld zuletzt bei einer IT-Firma, die mit amerikanische Firmen und Banken zusammenarbeitete.

Die Stasi hat ihn umgedreht
Mit seiner Vergangenheit hat Odfried Hepp Frieden geschlossen. Die Stasi, sagt er, hat ihn umgedreht. „Meine ostdeutschen Betreuer haben mir in den achtziger Jahren zum ersten Mal ein Konzentrationslager gezeigt.“ 2009 hat er vor einer Bielefelder Burschenschaft über seine Kindheit sowie seine Zeit als Terrorist geredet – und sich von rechten Ideologien distanziert. Hepp nennt den Vortrag sein politisches Testament.

„Brüder im Osten und Westen, Brüder in Österreich! Aus den zerschlagenen Resten bau’n wir ein neues Reich.“ (Kalender des Bundes Heimattreuer Jugend, 1978, gefunden in „Unsere Stunde wird kommen“ von Meyer/Rabe)

Odfried Hepp ist einer der wenigen Rechten, die sich öffentlich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Er vermutet, dass sich ein Teil der ehemaligen Mitglieder von Freibund, Wiking-Jugend und Heimattreuer Deutscher Jugend jetzt „in kleineren Gruppen von 20 bis 50 Leuten organisieren, um dem Verfolgungsdruck zu entgehen“. Martina Rabelo glaubt, dass sich ihr früheres Umfeld noch immer regelmäßig trifft, dass es bis heute Verbindungen in die rechtsextreme Szene hat. Odfried Hepp hat für diese Leute eine eingängige Bezeichnung. Er nennt sie Schläfer.