Lingen. . Jürgen Springer war vor 25 Jahren in Essen Kriminalhauptkommissar der Mordkommission, als eine beispiellose Verbrechensserie die Stadt erschütterte. Zwei Jahre dauerte es, bis der Täter, der fünf Frauen tötete und acht vergewaltigte, verhaftet wurde.
Es ist schön im Emsland in der Nähe der alten Schleuse, viel zu schön für das, was in der alten Akte lauert. „Fragen Sie nur“, sagt Jürgen Springer, unbeeindruckt vom Lärm der Spatzen in seiner Hecke. Dann schlägt er den Ordner auf und zieht einen weißen Karton heraus, in Rubriken eingeteilt, mit Schreibmaschine getippt. Säuberlich hatte Springer so Morde, Überfälle und Vergewaltigungen sortiert, um nicht den Überblick zu verlieren in der Verbrechensserie, die vor 25 Jahren in seiner Heimatstadt Essen begann und die Polizei mehr als zwei Jahre in Atem hielt. Der „Sommer der Angst“, wie er in der Zeitung genannt wurde, ging auf das Konto des Serienmörders Ulrich S.. Und bevor man die erste Frage stellen kann, ist Jürgen Springer wieder mitten drin.
Der Fall ließ ihn nie los
Nein, dieser Fall habe ihn nie ganz losgelassen, sagt der pensionierte Kriminalhauptkommissar und dabei wirkt er so locker wie jemand, der es genießt, mit 76 Jahren seinen Sommer auf dem Land verbringen zu können. Fünf Morde, zwei Mordversuche und acht Vergewaltigungen - es sei sein größter Fall gewesen, sicher auch der größte Kriminalfall, den die Stadt Essen je erlebt hat, wenn nicht gar einer der spektakulärsten im ganzen Land.
Dafür ist der unscheinbare Ulrich S. bis heute ein Täter geblieben, über den nicht viel an die Öffentlichkeit drang, der nach seiner Verurteilung 1992 schnell vergessen wurde.
S., der vor Gericht schwieg, ließ sich in kein Schema pressen - er war alles - Straßenräuber, Dieb, Einbrecher, Raubmörder, Sexualmörder, Vergewaltiger, und das in rasantem Wechsel in den Jahren 1987 und 1989, als er eine blutige Spur durch die Stadtteile Altendorf und Rüttenscheid zog.
Halbes Leben in Arrestzellen
Jürgen Springer, Jahrgang 1936, wuchs im benachbarten Holsterhausen auf, lernte Industriekaufmann und ging danach zur Polizei. Seit 1968 war er im Kommissariat für Tötungsdelikte. Als sich die Wege der beiden 1987 zum ersten Mal kreuzten, war Springer ein erfahrener Kripo-Mann, während Ulrich S. mit Anfang 30 bereits fast die Hälfte seines Lebens in Arrestzellen verbracht hatte - Diebstahl, Einbrüche, räuberische Erpressung - nichts, was in Jürgen Springers Abteilung von Belang gewesen wäre.
Die muss sich Ende Mai ‘87 mit dem Mord an Marika B. (49) befassen, der nach ihrer Arbeit im Spaßbad „Oase“ an der S-Bahn-Station Frohnhausen aufgelauert wird. Sie wird erstochen, ihre rote Geldbörse ist leer, ihre Strumpfhose liegt, merkwürdig verdreht wie ein Strick, neben der entkleideten Leiche. Man vermutet, es sei die Tat eines Einzeltäters.
Wenige Tage davor, erzählt Springer und tippt auf seine Schablone, sei am S-Bahnhof Stadtwald eine Frau mit einem Messer bedroht worden, sie solle Geld herausrücken. Passanten eilen zu Hilfe. Ein Einzeltäter, vielleicht ein Junkie? Der Fall landet in der Abteilung Raub. Überhaupt ist es ein unheimlicher Sommer und wird ein unheimlicher Herbst. Berichte von Vergewaltigungen alleinstehender Frauen in ihren Wohnungen häufen sich. Die Sitte hat viel zu tun.
Am Pfingstmontag, dem 8. Juni, besucht eine 59-Jährige ihre Tochter, die im Alfried-Krupp-Krankenhaus arbeitet. Die Dame vertreibt sich Wartezeit in der Essener Gruga. Auf der Toilette am Eingang drängt sich ein Mann zu der empörten Frau in die Kabine, will Geld. Sie redet auf ihn ein, bis er ihr entnervt ein Taschentuch in den Mund stopft. Als sie aufwacht, sind ihre Beine mit ihrer Strumpfhose um die Toilette gebunden. Ihr Hals ist aufgeschnitten. Sie überlebt. Ein Einzelfall?
Die Geldbörse, die Strumpfhosen
Springer ist damals der erste, der einen Zusammenhang herstellt. Die leere Geldbörse der Marika B., der Raub in der Gruga, die Strumpfhosen, die Brutalität. Er bringt einen Serientäter ins Spiel, wird aber zurückgepfiffen, wohl wissend, „dass es für die Polizei nichts Schlimmeres gibt als Serientäter, die man nicht fassen kann.“ Dann geschieht im Juli wieder ein Mord an einer älteren Frau - auf einem Friedhof im Südost-Viertel. Ein Raubmord, kein Sexualdelikt, eine Fesselung, aber mit einer Schnur. Die Fahnder sind ratlos. Sie haben jede Menge Spuren - Zeltfasern, Wäscheleine, Haare, Stoffe, eine Zeugin beschreibt die Schuhe des Täters, an einem Tatort verliert er gar seine Unterhose - doch „es fehlte uns das andere Ende, jemand, der zu den Spuren passte“, sagt Springer. Ein Puzzle ohne Rahmen.
Und dann kehrt Ruhe ein. Kurz vor Jahresende ‘87 reißt die Serie ab. Keine Morde, keine Überfälle. „Da saß er im Gefängnis“, erzählt Springer. „Wegen räuberischer Erpressung. Und wurde wegen guter Prognosen mit der Weihnachtsamnestie 1988 entlassen!“.
Ende Januar 1989 wird eine Frau imStadtteil Altendorf vergewaltigt und ausgeraubt, eine Woche später eine weitere. Drei Wochen darauf stirbt in Frohnhausen eine 81jährige Ladenbesitzerin, erstochen, um 150 Mark beraubt. Fünf Tage später ein Sexualdelikt an einer Frau in der City-Ost. Nur zwei Tage später folgt der Mord an einer Abiturientin aus dem Essener Süden. Sie stirbt auf dem Heimweg von der Bushaltestelle hinter der Gruga, nahe ihres Elternhauses, im Gestrüpp zwischen A52 und Garagen, gedrosselt mit dem Zugband ihres Kapuzenpullis, erstochen. Ihr Vater findet sie.
Nach dem Tod der jungen Frau quittiert der Leiter der Mordkommission erschüttert den Dienst. Und es geht weiter. Im Juni der Sexualmord an einer 23 Jahre alten Altendorfer Spielhallenaufsicht, die ihren Mörder um Mitternacht hereinließ, zwei Wochen später der Mordversuch an einer Sekretärin, die in der Tiefgarage des Aalto-Theaters überfallen wird. Die gleiche Fesselung, die gleiche Grausamkeit. Sitte und Mordkommission rennen längst Hand in Hand dem mörderischen Chamäleon hinterher.
Blitzlicht durchs Fenster
Es ist der Zufall, der Ulrich S. stoppt. Im Erdgeschoss des Wohnheims hinter dem Kruppschen Krankenhaus wird eine Frau beim Bügeln durch ein Blitzlicht durchs Fenster gestört. Die Terrasse gibt den Blick auf Wiese und Wäldchen frei, von dort hebelt Ulrich S. die Rollladen auf, bedroht die Krankenschwester, doch Nachbarn kommen zu Hilfe. Der Täter lässt eine Kamera liegen. Auf dem Film ist viel Privates und ein Opel zu sehen. Am 8. August 1989 wird der Halter des Pkw festgenommen.
Nun fügt sich alles zusammen - der Altendorfer hat eine Freundin in Rüttenscheid, die seine einsamen Streifzüge als Spleen abtut - das erklärt die Tatorte. Weil er Schrott fährt, trägt er dicke Arbeitsschuhe. Zeltfasern lassen sich einer Werkstatt des Bruders zuordnen, Spürhunde schlagen bei seiner Unterhose an. Die Frauen, die überlebt haben, erkennen ihn wieder.
In den Vernehmungen sitzt Springer dem Mann noch einmal gegenüber, den er so lange gesucht hat. Aber mehr als „ich weiß doch nicht, was ich da alles gemacht habe“, wird Ulrich S. nicht sagen. Die Beweise reichen auch so.
S. sitzt immer noch im Gefängnis. Pensionär Springer glaubt zu wissen, wo, aber mehr interessiert ihn nicht . Dafür ist der Sommer im Emsland zu schön.