Essen. Das Sozialgericht Düsseldorf will über die Zulässigkeit der elektronischen Gesundheitskarte befinden. In dem ersten Verfahren dieser Art klagt ein Versicherter aus Wuppertal gegen die Bergische Krankenkasse Solingen, weil er eine elektronische Gesundheitskarte erhalten sollte.
Technischer Fortschritt oder doch ein Krebsgeschwür? Seit zwei Jahren trägt das Düsseldorfer Sozialgericht schwer an seiner juristischen Bewertung der Elektronischen Gesundheitskarte (EGK), die Ende 2013 bei rund 70 Millionen deutschen Krankenversicherten in der Brieftasche stecken soll. Nun hat Justitia einen Kniff in den Po bekommen – für Juristen: eine Verzögerungsrüge – und ruft deshalb Donnerstag zur Hauptverhandlung auf. Im Verfahren klagt Sven S. aus Wuppertal gegen die Bergische Krankenkasse (Solingen), weil er durch die EGK Datenschutz und Persönlichkeitsrechte in Gefahr sieht. Er möchte nicht zum gläsernen Patienten werden.
Wenn ein Foto des Inhabers die Krankenkassenkarte ziert, ist es eine neue EGK. Noch speichert der Chip bloß die Stammdaten der Krankenversicherten wie seit eh und je: Name, Adresse, Familienstand. Ab 2014 oder 2015 soll das Plastikstück jedoch schlauer werden: etwa mit lebensrettenden Hinweisen für den medizinischen Notfall (Krankheiten, Allergien oder Arzneimittelunverträglichkeiten) und einer digitalen Krankenakte, zwischengespeichert auf externen Servern und einsehbar für andere Ärzte, Krankenhäuser, Kassen und Apotheken, für insgesamt zwei Millionen Menschen.
Die Rede ist von einem „Millionengrab“
Bundesregierung, Gesetzliche Krankenkassen, Krankenhausträger und Bundesärztekammer setzen alles auf diese eine Karte. Für niedergelassene Ärzte, Patientenorganisationen und Datenschützer hingegen ist sie „Millionengrab“ und unkontrollierbare Datenschleuder zugleich.
Runde eins in diesem Kartenspiel: der Versicherte Sven S. gegen seine Solinger Krankenkasse. „Mein Mandant möchte anonym bleiben“, sagte Rechtsanwalt Jan Kuhlmann aus Karlsruhe im Gespräch mit der NRZ und will deshalb alle Foto- und Filmaufnahmen im Sozialgericht unterbinden. Sven S. sorge sich um Datenschutz und seine Persönlichkeitsrechte.
Was, wenn Versicherungen oder künftige Arbeitgeber Zugriff auf all die extern gespeicherten Daten bekämen? „Das kommerzielle Interesse an einem solchen Datenbestand ist riesig. Und deshalb werden sich Wege finden, dass die Daten in unbefugte Hände gelangen“, vermutet Rechtsanwalt Kuhlmann; der Kauf illegal gebrannter Steuerdaten-CDs aus der Schweiz durch den deutschen Staat dient ihm nach eigenen Worten als mahnendes Vorbild.
Sein Mandant sei ein ganz normaler Mensch, versichert Kuhlmann und erklärt auf Nachfrage, für den Rechtsbeistand von S. bisher keinen Euro bekommen zu haben. Kuhlmann ist für die Initiative „Stoppt die E-Card“ tätig, die mittlerweile von 50 Ärzte- und Patientenorganisationen unterstützt wird. Der Saal 139 im Düsseldorfer Sozialgericht ist für ihn ohnehin nur eine Zwischenstation. Kuhlmann will bis vors Bundesverfassungsgericht – und das nun möglichst rasch, bevor Ende 2012 alle Karten verteilt sind.
Runde zwei: Gesetzliche Krankenkassen gegen freie, niedergelassene Ärzte. Im Berliner Olymp der Bundesärztekammer ist die Elektronische Gesundheitskarte noch willkommen, sofern sie das Leben für die Mediziner leichter macht. Doch genau diesem Versprechen trauen viele Weißkittel nicht und ziehen deshalb gegen das „gigantische Datenschnüffel-Projekt“ zu Felde. Der Ausdruck stammt vom Präsidenten der „Freien Ärzteschaft“ (FÄ), Martin Grauduszus. Ihn und andere Weißkittel treibt die Angst vor einem Verlust der ärztlichen Therapiehoheit. Sobald Krankenkassen einen Behandlungsverlauf inklusive Ärztetagebuch minutiös nachvollziehen können, unterlägen die Mediziner einer viel intensiveren Kontrolle als heute. Deshalb wehren sie sich dagegen, zu „Handlangern der Kassen“ zu werden.
Und schließlich – in Runde drei: die IT-Firmen wie IBM und SAP. Auf bis zu 14 Milliarden Euro schrauben sich die geschätzten Gesamtkosten für das Computer- und Servernetzwerk hinter der EGK in die Höhe. Geld, das die hungrige Bit-Branche gerne in die eigenen Taschen stecken würde anstatt in ein besseres Gesundheitssystem.
In Großbritannien übrigens stoppte der Gesundheitsminister im September 2011 ein ähnliches Projekt nach neun Jahren. Grund: die Kosten waren von 2,3 auf mehr als 16 Milliarden Pfund gestiegen, ein Nutzen hingegen konnte im klinischen Bereich nicht festgestellt werden. Stattdessen bekam das Projekt wegen mangelnden Datenschutzes unter anderem den Big Brother Award.