Am Niederrhein. . Es ist eine besondere Liebe: Torsten Körwers hat eine schwere Behinderung, Hildegard Peters nicht. Die beiden sind ein Paar, obwohl sie nicht alles miteinander teilen können.
Es ist wieder die Zeit, in der die Engel auf die Erde kommen. Hildegard und Torsten haben ihren Lieblingsplatz in Lourdes erobert, gleich am Flüsschen, der Garve, mit Blick auf die Grotte. Auf der anderen Seite des Ufers beten und singen die Menschen in internationaler Einigkeit: „Ave, ave, ave Marihiaaa“. Hier ist vor 150 Jahren dem Bauernmädchen Bernadette von Soubirous die Muttergottes erschienen. „Ein magischer Ort“, sagt Hildegard. Torsten quiekt. „So stellen wir uns den Himmel vor“, ergänzt Hildegard. „Alle Menschen sind gleich, alle nehmen Rücksicht aufeinander.“ Torsten dreht den Kopf, um jeden Ton aufzuschnappen.
Für ein paar Minuten vergisst er sogar, mit den Zähnen zu knirschen - was er eigentlich immer tut, wenn irgendetwas um ihn herum passiert. „Er kann nicht zuordnen, wo die Geräusche herkommen“, erklärt Hildegard Peters. „Für ihn sind es Engel, die ihre Stimmen zu uns schicken.“
Torsten ist 42 Jahre alt und geistig und körperlich behindert. „Dandy Walker Syndrom“, sagt Hildegard Peters knapp. Schon im Mutterleib haben sich Zysten in Torstens Gehirn gebildet, er bekam einen Wasserkopf, epileptische Anfälle, Sehnen und Muskeln bildeten sich nicht richtig aus - die Folge, u.a.: motorische Ausfälle, Koordinationsstörungen, das zentrale Nervensystem ist stark gestört. Torsten kann nicht laufen, kaum greifen, nicht sprechen – aber er kann sich einfach wunderbar und herzergreifend freuen. Dann legt sich sein Gesicht in Falten, er gluckst und wiegt seinen Kopf hin und her. Und Hildegard Peters lacht ihr fröhliches, unbeschwertes Lachen - und die Welt ist plötzlich das Paradies auf Erden.
„Es ist etwas Besonderes mit uns.“
„Naja, viele Leute meinen, ich wäre seine Mutter - das liegt daran, dass der Torsten so jung aussieht.“ Hildegard Peters (49) ist gelernte Altenpflegerin und lebt in Kevelaer. Und die Sache mit Torsten, die begann vor 15 Jahren: Hildegard machte in einem Alten- und Behindertenwohnheim Dienst - und eines Tages kam Torsten, nach einem schlimmen Rollstuhl-Unfall wurde er von der Landesklinik „überstellt“ und dämmerte in einer Art Wachkoma vor sich hin, ohne großes Interesse an der Welt. „Tja, und dann ist es irgendwie passiert“, erzählt Hildegard, es hat „Zoom“ gemacht. „Kein Mensch hat das verstanden - aber ich wusste sofort, da passiert gerade etwas Besonderes mit uns.“
Mit viel Geduld haben es die beiden geschafft, dass Torsten inzwischen mit seinen Händen gezielter greifen kann. Dass er mit seinem neuen Rollstuhl ein paar Meter völlig allein unterwegs sein kann - ein Gefühl von Freiheit. Torsten muss nach wie vor gefüttert werden und kann nur pürierte Kost zu sich nehmen - aber mit Engelsgeduld und Löffel für Löffel klappt das richtig gut. „Dass es Torsten heute so gut geht, ist nicht nur mein Verdienst“, sagt Hildegard. „Daran haben die Betreuer im Wohnheim und in der Werkstatt auch hart mitgearbeitet.“ Und wenn Torsten dann unvermittelt aufschaut und den konkreten Augenkontakt mit „Hilla“ findet - dann strahlen beide um die Wette. Der junge Mann kratzt sich am Ohr - „das macht er immer, wenn er verlegen ist - oder wenn er etwas ausheckt.“
Botschafter für Integration
„Torsten ist für mich ein wunderbares Geschenk, nirgendwo bin ich Gott näher, als wenn ich bei Torsten bin - er schenkt mir so viel Kraft und Liebe, das ist einfach großartig.“ Irgendwann hat Hildegard Peters Torsten mit ihrer Begeisterung für den südfranzösischen Wallfahrtsort Lourdes angesteckt. Zum vierten Mal waren die beiden nun dort - wie immer mit der Krankenbruderschaft Rhein-Maas, die seit 40 Jahren vom Niederrhein aus diese besondere Zug-Wallfahrt organisiert - bei der sich schwer kranke und gesunde Pilger gemeinsam auf den Weg machen. Torsten guckt auf den Heiligen Bezirk, wo Tausende von Menschen beten, singen, Kerzen anzünden.
Aus den Lautsprechern rumpelt das „Ave Maria“ wie aus einer Endlosschleife. Torsten knirscht wieder - ein paar Kinder bleiben stehen und gucken ihn erstaunt an - Torsten grient, eindeutig. Seine neuen Fans versuchen nun auch mit den Zähnen Geräusche zu machen - klappt aber längst nicht so gut. Torsten grient noch mehr. „Schelm“, sagt Hildegard liebevoll und: „Torsten ist ein echter Botschafter der Behinderten. Er mag Kinder über alles - und er schafft es immer wieder, Brücken zu schlagen zwischen Behinderten und Nichtbehinderten.“
Gern unter gesunden Menschen
Eine Woche Wallfahrt nach Lourdes, das ist nicht nur Pilgern und Danke sagen für das Geschenk des gemeinsamen Erleben dürfens. „Torsten genießt es, unter normalen, unter gesunden Menschen sein zu dürfen. Im Wohnheim in Weeze lebt er mit 30 Behinderten, in der Freudenberg Werkstatt in Goch arbeitet er mit 600 Behinderten zusammen. Lourdes ist für uns ein Stück Himmel.“
Inzwischen ist Hildegard die gesetzliche Betreuerin. „Ich habe plötzlich ein Kind bekommen“, grinst sie, „so ganz ohne Vorwarnung - und mit allen Rechten und Pflichten.“ Einmal im Monat holt Hildegard Torsten zu sich nach Hause. Ein ganzes Wochenende lang. Praktizierte Nächstenliebe, eine besondere Freundschaft...?
Hildegard Peters schüttelt den Kopf. „Ne, man kann schon sagen, dass es Liebe ist. Oder wie siehst Du das, Herr Körwers?“ Der guckt gerade ins Leere, konzentriert sich aber plötzlich, sucht den Augenkontakt zu Hildegard und quiekt vor Freude. Und dann zuppelt er sich am rechten Ohrläppchen.