Detmold. Der Prozess um den Tod der jungen Kurdin Arzu Ö. aus Detmold hat am Montag mit Geständnissen begonnen. Sirin Ö. räumte erstmals die Entführung ein und belastete ihren Bruder Osman schwer. Der 22-Jährige gestand wenig später vor Gericht, dass er seine Schwester Arzu erschossen habe.
Bislang hat Sirin Ö. geschwiegen, nichts gesagt zu den ungeheuerlichen Vorwürfen, die ihr und ihren vier Brüdern gemacht werden. Seit Montag stehen die fünf Geschwister in Detmold vor Gericht, weil sie die jüngere Schwester Arzu im vergangenen Jahr entführt und ermordet haben sollen. Zum Prozessauftakt überrascht die 27-Jährige mit einer ausführlichen Erklärung. Darin gesteht sie die Entführung der 18-jährigen Arzu - und belastet ihren jüngeren Bruder Osman schwer. Der gibt die Bluttat wenig später in seiner Aussage vor Gericht auch selbst zu.
Zwei Stunden lang verliest die 27-Jährige am Montagmorgen im Landgericht ihre Erklärung. In wohlfeilen Worten beschreibt Sirin Ö., wie sie Arzu in der Nacht zum 1. November 2011 aufgespürt und mithilfe ihrer Brüder aus der Wohnung des Freundes verschleppt hat. "Mir war klar, dass wir das mit Gewalt durchsetzen, wenn sie nicht mitkommt",
gesteht sie.
Sirin sowie ihre Brüder Kirer und Osman machten sich mit einem Pkw Richtung
Hamburg auf, um die aus ihrer Sicht renitente Schwester bei einem "liberalen
Onkel" abzuliefern. Ein zunächst gefasster Plan, Arzu zu einem Haus der Familie
im ostwestfälischen Steinheim zu bringen, wurde aufgegeben. Die Brüder Kemal und
Elvis waren an dem weiteren Tatgeschehen demzufolge nicht mehr beteiligt.
Osman, 22 Jahre alt, habe in einem Waldstück bei Hamburg plötzlich die Pistole gezückt, sagt Sirin aus und lastet ihrem Bruder den Mord an: Mit zwei gezielten Schüssen habe dieser Arzu getötet.
Widersprüche zur Tatnacht
Osman bestätigt die Schilderung der älteren Schwester. Man habe Arzu nach Hamburg zu einem Verwandten bringen wollen, auf dem Weg dorthin sei die Situation eskaliert. Arzu habe in einem Waldstück auf dem Boden gelegen, da habe er sie erschossen. Die Waffe habe er 2010 gekauft, nach einem Streit mit dem Schwiegervater seines Bruders.
Er sei in der Tatnacht "außer Kontrolle gewesen", sagt der 22-Jährige über sich selbst. Warum?, fragt der Richter. Weil Arzu ihn so provoziert habe, sagt der Angeklagte. Sie habe die Familie beschimpft. "Ich bin außer Kontrolle geraten", erklärt er.
Der erste Prozesstag, er bringt nicht nur die lange erwarteten Aussagen der angeklagten Geschwister - sondern auch neue Fragezeichen. Zwischen den Aussagen von Sirin und Osman Ö. und den Erkenntnissen zur Tatnacht gebe es "einige Widersprüche", sagt Richter Michael Reineke. Zum Beispiel behaupten die Angeklagten, nach Arzus Entführung direkt gen Norden, in Richtung Hamburg, gefahren zu sein. Tatsächlich aber sei Arzus Handy fünf Minuten nach der Verschleppung im Süden Detmolds geortet worden.
Weinkrämpfe ohne jede Träne
Dann ist da noch das Auftreten der Angeklagten: Sirin Ö. gibt sich in ihrer Aussage als besorgte, erschütterte Schwester, sagt, sie habe Arzu geliebt und "liebe sie noch heute". Die 27-Jährige, das erfahren die Prozessbeobachter, spielt in der Familie eine führende, eine dominante Rolle. Die Angestellte der Stadt Detmold führt die Familienfinanzen, ist eine Art "zweite Mutter". Sie habe sich um Arzu gesorgt, die "geliebte Schwester" an dem fraglichen Abend zurück in die Familie holen wollen. Die Entführung sei nicht geplant gewesen. Um der bei ihrem Freund untergetauchten 18-Jährigen auf die Spur zu kommen, hatte Sirin ihre Arbeit genutzt und Einblick ins Melderegister der Stadt genommen.
Immer wieder unterbricht die 27-Jährige ihre Erklärung, scheinbar erschüttert und von Weinkrämpfen geschüttelt. Allein: Es fließt keine Träne, die Angeklagte braucht noch nicht mal ein Taschentuch.
Zehn Zeugen am ersten Verhandlungstag
Die Aussagen der ersten Zeugen zeichnen das Bild vom Martyrium, das Arzu Ö. durchlitten haben muss, weiter: Rechtsanwältin Ilona Schmidt erzählt, wie Arzu Mitte vergangenen Jahres bei ihr Rat suchte. Kurz zuvor sei die 18-Jährige vom Vater und den Brüdern in den Keller gesperrt und schwer misshandelt worden. Arzu habe zwangsverheiratet werden sollen, der Flug in die Türkei sei bereits für September gebucht gewesen, die 18-Jährige habe Angst gehabt: Wenn sie sich weigere, werde sie umgebracht.
Ähnliches bestätigt auch eine Freundin des Opfers: Arzu habe gefürchtet, verschleppt zu werden, sagt sie vor Gericht aus. Grün und blau hätten die männlichen Familienmitglieder, allen voran Bruder Osman, die junge Frau geschlagen. Auch das räumt der 22-Jährige ein.
Fall Arzu sorgte für Aufsehen
Kurz vor ihrem Tod war Arzu tatsächlich noch untergetaucht. Hatte Zuflucht in einem Frauenhaus gefunden, ihre Haare abgeschnitten und blond gefärbt, ihren Namen geändert. Vergeblich. Als sie bei ihrem deutschen Freund in Detmold übernachtete, sollen die Geschwister zugeschlagen haben.
Das Verschwinden der 18-jährigen Arzu hatte Anfang November vergangenen Jahres für Aufsehen gesorgt: Schnell rückte die Familie ins Visier der Ermittler; doch die Geschwister schwiegen die längste Zeit. Die Ö.s galten in Detmold als vorbildlich integriert. Arzus Beziehung zu einem Deutschen war der Familie jedoch ein Dorn im Auge. Als strenggläubige Jesiden verbieten sie Beziehungen zu Andersgläubigen. (hl/shu/dapd)