In Coronazeiten trifft man manchmal in der Nachbarschaft Menschen, die man sonst nie sieht: zum Beispiel Norbert, den Gipfelstürmer.

Nichts verändert das Gesicht eines Mannes so schnell wie der Verlust des Schnäuzers. Ich erkenne Norbert deshalb erst auf den zweiten Blick und wohl nur, weil er sich die Haare nicht auch noch abgesemmelt hat. Von dem Bart trennte er sich so radikal, damit die Maske besser sitzt. Sonst soll das Thema Corona heute keine große Rolle spielen, das Virus zermürbt mich zusehends. Es raubt mir Schlaf, weckt mich um fünf mit dem Sorgentelefon, das unentwegt klingelt. Ich gehe dran, niemand meldet sich. So liege ich wach bis halb sieben und bin gerädert. Drei Monate geht das jetzt schon so.

Über die Hecke hinweg kommt man ins Quatschen

Zu den wenigen positiven Seiten von Corona zählt, dass man zum Beispiel mit Nachbarn öfter ins Gespräch kommt. Die mussten Wochen nicht arbeiten, und so über die Vorgartenbüsche hinweg kam man ins Quatschen. Von Norbert wusste ich schon, dass er nicht nur Software-Entwickler, sondern auch so ein Klettermaxe ist, von den extremen Ausprägungen dieser Leidenschaft aber hatte ich keine Ahnung. Der Reihe nach.

Nachbar Norbert auf der Bank.
Nachbar Norbert auf der Bank.

Norbert ist kaum größer als ein Spazierstock, als ihn Vater Wieskotten vor 50 Jahren im Allgäu-Urlaub mit in die Berge nimmt. „Ich war sofort begeistert, auch ehrgeizig, bin jeden Berg und jeden Baum hoch. Höhenangst kannte ich nicht.“ Eine kurze Zeit gibt’s einen Nebenbuhler beim Sport, den Fußball, Norbert ist ein guter Torwart, fast zwei Meter ist er groß, spielt in der Jugend von Rot-Weiss Essen. Doch dann entscheidet sich der Ruhrpottjunge doch nicht für den Rasen, sondern für den Klettergarten, die Felsen, die Berge, immer höher, immer steiler.

Schließlich bezwingt er die Eiger- und die Matterhorn-Nordwand, die Grandes Jorasses im Mont-Blanc-Massiv. Und entdeckt in den 90ern das Eisklettern. Er reist nach Schottland, dann nach Kanada. Dort meistert er den Terminator, einen komplett gefrorenen Wasserfall. Mit seinem Schwager als erste Europäer. Muss man wollen.

Genug Gefahren lauern auch auf halber Höhe

Er ist auch in den Himalaya gereist. Beim Aufstieg werden zwei Bergkumpel höhenkrank, Abbruch. „Mich reizt das auch nicht so. Für einen Kletterer sind viele dieser 8000er nicht so interessant. Es geht da mehr um Kondition.“ Und genug Gefahren lauern auch auf halber Höhe. Als er „free solo“ – also allein und ohne Seil – in die Nordwand der Grandes Jorasses stieg, sind ihm schon weit oben nacheinander beide Hauen abgebrochen. Eine Katastrophe. Lebensgefahr. 800 Meter über dem Boden. Ohne Seil. Er bleibt cool. Denkt nach. Schlägt sich mit den Resten der Hauen kleine Tritte. Schafft es. Seine Erlebnisse sind sogar in dem Buch „Gratwanderung“ verewigt. Dort berichten bekannte Alpinisten über ihren Überlebensinstinkt.

Zwei Mal ist er abgestürzt. 2011 und 2017. Weiß ich als Nachbar noch. Da lief er wochenlang mit Krücken durch unsere Straße. „Manchmal kriegt man auf die Fresse.“ Sagt er. Ohne Schnäuzer sieht man das Grinsen. „Und ich werde älter, bin jetzt 55. Die Fähigkeiten nehmen ab.“ Gibt’s denn noch ein Ziel da oben? „Einige. Etwa den El Capitan im Yosemitepark, Kalifornien. Musste ich vor Jahren abbrechen. Eigentlich wollte ich jetzt gerade da sein. Dann kam Corona.“ Da ist es wieder.